Rabbinisches Wort für den Juni

Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg

Zu Schawuot feiern wir die Gabe der Torah. Aber wie können wir Gottes „Stimme“ hören? Wie können wir Menschen die Kommunikation Gottes mit uns wahrnehmen?

Die Torah schildert die Offenbarung am Sinai in dramatischen Bildern: Der Berg bebte, Rauch stieg auf, es blitzte und donnerte, über allem ein durchdringender Schofarton. Nach den ersten Worten schreckte das Volk zurück und bat Moscheh, ein Mittelsmann zu sein. Der Midrasch Schemot (Exodus) Rabbah zum Zweiten Buch Mose erwähnt eine Stimme, die durch die ganze Welt ging, nach Norden, Süden, Osten und Westen. Sie war überall präsent und wurde als aus allen Himmelsrichtungen, vom Himmel und von der Erde herkommend wahrgenommen.

In der Torah heißt es (Ex 20,15): „Das ganze Volk gewahrte die Donner“. Und weil von Donner im Plural die Rede ist, war Rabbi Jochanan der Ansicht, dass Gottes Stimme sich in 70 Stimmen, also in 70 Sprachen, äußerte, damit alle Nationen der Welt sie vernehmen könnten. Manche Menschen seien dabei ohnmächtig geworden… Die Stimme ging durch die Welt und kam zu jedem Menschen in Israel entsprechend der individuellen Kraft: Zu den Alten und den Jungen gemäß ihrem Aufnahmevermögen, zu den Kindern, den Babys und zu den Frauen gemäß ihrer Stärke. Sogar zu Moscheh in einer Weise, dass er es aushalten konnte. Auch schwangere Frauen hätten die Stimme ihren Kräften entsprechend wahrnehmen können. Das sei die Bedeutung des Psalmverses 29,4 (den wir jeden Freitagabend singen): „Die Stimme Gottes ist in der Kraft“. Nicht: „in Seiner (Gottes) Kraft“, sondern in der Kraft des einzelnen Menschen.

Soweit der Midrasch mit seiner Vorstellung, wie sich die Offenbarung am Sinai vollzogen haben könnte. Er sagt nicht, dass jede/r etwas anderes hörte, sondern dass alle die Botschaft in der ihnen gemäßen Weise aufnehmen konnten. Und es heißt auch, dass sogar die zukünftigen Generationen damals am Sinai anwesend waren. Denn darum geht es ja: Dem einmaligen Akt der Gabe der Torah steht der tägliche Akt ihrer Annahme gegenüber, von jedem und jeder Einzelnen – ein langes Band der Generationen durch die Geschichte bis zurück zum Sinai.

Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg