Brief aus Jerusalem

Autorin:
Dr. Deborah Weissman

Brief aus Jerusalem Nr. 8

Wenn die Chinesen jemanden verfluchen wollen, sagen sie: „Mögest du in einer interessanten Zeit leben“. Der vergangene Monat war in der Tat eine sehr interessante Zeit in Israel. Eines der am häufigsten verwendeten Wörter im öffentlichen Diskurs in Israel ist „Komplexität“, und diese Zeit wurde als „komplexe und herausfordernde Zeit“ beschrieben.

Die allgemeine Stimmung ist nach wie vor traurig und pessimistisch. Staatspräsident Herzog nannte dieses Jahr ein „Jahr der nationalen Trauer“. Sogar der 76. Unabhängigkeitstag Israels, der für die Öffentlichkeit oft ein Tag der Freude ist, begann in gedämpfter Stimmung. Er wurde zwar nicht ignoriert, aber die öffentlichen Feierlichkeiten wurden weitgehend abgesagt.

Jedes Jahr werden in Israel in den Wochen nach Pessach drei „nationale Tage“ begangen. Der erste, der Holocaust-Gedenktag, schien in diesem Jahr tiefer zu berühren, da viele von uns die Ereignisse vom 7. Oktober, wenn nicht mit dem Holocaust, so doch zumindest mit einer Art Pogrom identifizierten, was darauf hindeutet, dass sich die Israelis vielleicht doch nicht so radikal von den Juden in der Diaspora unterscheiden, wie manche arroganter weise dachten.

Der allgemeine Gedenktag für gefallene Soldaten und Terroropfer war trauriger als sonst, denn israelische Zivilisten und Soldaten fallen nach wie vor fast täglich. Zum 19. Mal versammelten sich trauernde Israelis und Palästinenser*innen zu einer gemeinsamen Gedenkzeremonie, die immer sehr bewegend und sogar ein wenig hoffnungsvoll ist, diesmal allerdings nur auf Zoom.

Gleich am nächsten Tag fand der Jom HaAtzmaut (Unabhängigkeitstag) statt, der in diesem Jahr weniger festlich und feierlich begangen wurde als in den vergangenen Jahren.

Rabbinerin Tamar Elad-Applebaum, eine Sabra aschkenasischer und sephardischer Herkunft, ist eine der eloquentesten und beeindruckendsten Rabbinerinnen Israels und Gründerin von Tzion, einer traditionellen Gemeinde im Süden Jerusalems. Sie und andere Mitglieder ihrer Gemeinde, die sich intensiv im interreligiösen Dialog mit Christ*innen und Muslim*innen engagieren, nennen diese Zeit „Tage des Schmerzes und der Liebe“.

Vielleicht liegt einer der Gründe, warum Israelis als unsensibel gegenüber dem Leiden der Palästinenser*innen im Gazastreifen angesehen werden, darin, dass wir immer noch in unserem eigenen Trauma des 7. Oktober gefangen sind. In jüngster Zeit hat sich jedoch gezeigt, dass die meisten, wenn nicht sogar alle negativen Statistiken, die von den UN-Behörden veröffentlicht wurden und größtenteils vom Gesundheitsministerium in Gaza stammen, stark übertrieben sind. Unabhängig davon ist Gaza eine menschliche Tragödie großen Ausmaßes. 

Ein extremistischer Teil der israelischen Juden hat versucht, Lastwagen mit Hilfsgütern daran zu hindern, in den Gazastreifen zu gelangen. Vor einigen Tagen habe ich an einer Demonstration gegen diese Extremisten im Zentrum Jerusalems teilgenommen. Denn Selbstverteidigung darf niemals eine Entschuldigung für Grausamkeit und Unmenschlichkeit sein.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag wirft Israel Kriegsverbrechen vor. Die Wiederholung der Forderung nach einer Änderung der Politik, die vor einigen Monaten sowohl an die israelische als auch an die Hamas-Führung gerichtet wurde, schafft eine Art moralische Gleichheit, die Israelis und unsere Verbündeten in der ganzen Welt ablehnen. Das ist bedauerlich, denn es verstärkt die defensive Haltung von Israelis und anderen Juden, die leider zu moralischer Gefühllosigkeit führen kann.

Eine zweite Runde von Warnungen, diesmal mit Haftbefehlen gegen zwei israelische Regierungsmitglieder, Ministerpräsident Netanyahu und Verteidigungsminister Gallant, sowie gegen zwei Hamas-Führer, Sinwar und Haniye, wurde verschickt. Netanjahu tat sie auf praktischer Ebene als unbedeutend für die Möglichkeit, weiterhin in andere Länder zu reisen, ab. Die Auswirkungen, beispielsweise auf die israelische Wirtschaft, könnten jedoch gravierend sein.  Die Warnungen wurden eher wegen des demütigenden Vergleichs eines demokratisch gewählten Führers mit dem Anführer einer Terrorgruppe zurückgewiesen. Die europäischen Länder positionierten sich in dieser Frage auf beiden Seiten, wobei die USA bei der Erwägung von Sanktionen gegen den IStGH die Führung übernahmen. In diese Zeit fiel auch die Entscheidung von Präsident Biden, Israel nicht mit einer bestimmten Art von Angriffswaffen zu beliefern. Für einige Israelis stellte diese Entscheidung eine Art Verrat des wichtigsten Verbündeten Israels dar. Ein besonders unverantwortlicher israelischer Kabinettsminister twitterte, dass „Biden die Hamas liebt“. Im Allgemeinen interpretierten die Israelis diesen Schritt als etwas, das Biden als Teil seiner Wiederwahlkampagne tun musste. Die meisten Umfragen zeigen jedoch, dass der Gazastreifen auf der Prioritätenliste der amerikanischen Wähler ziemlich weit unten steht.

Letzten Monat haben wir den Eurovision Song Contest verfolgt, der dieses Jahr in Malmö, Schweden, stattfand. Der israelische Beitrag kam von einer wunderschönen jungen Sängerin namens Eden Golan. Ihr Lied sollte ursprünglich „October Rain“ heißen. Es wurde disqualifiziert, weil es zu politisch war. Daraufhin wurde das Lied geändert und in „Hurricane“ umbenannt. Malmö hat – teilweise zu Recht – den Ruf, die Hauptstadt des europäischen Antisemitismus zu sein. Mehrere Delegationen drohten damit, sich wegen der Anwesenheit einer Israelin aus dem Wettbewerb zurückzuziehen oder mit Kaffiyehs oder palästinensischen Flaggen auf der Bühne zu demonstrieren. Trotz der Buhrufe eines Teils des Publikums schaffte es Eden ins Finale. Eden und die Tänzerinnen und Tänzer der Gruppe erhielten ein spezielles Training, um trotz des Verhaltens des Publikums singen und tanzen zu können. David Horowitz, Herausgeber der Online-Tageszeitung Times of Israel, bezeichnete Edens Mut in einem Artikel als „inspirierend“. Er schrieb: „Angesichts der heftigen Anfeindungen beim Eurovision Song Contest hätte Eden Golan instinktiv die Flucht ergreifen sollen. Stattdessen ist sie aufgestanden und hat ein Beispiel gegeben, dem viele Israelis in den kommenden Monaten nacheifern sollten“.

Die lokalen Buchmacher in Malmö sagten den Israelis ein gutes Ergebnis voraus, vielleicht sogar den zweiten Platz. Am Ende wurde ihnen von der nationalen Jury nur der 15. Platz zuerkannt, aber weil die öffentliche Abstimmung so positiv ausfiel, landete Israel auf Platz 5. In jedem anderen Jahr wäre das ein respektables Ergebnis gewesen, aber in diesem Jahr war es angesichts der heiklen Situation besonders wichtig. Für viele Israelis war es ein seltener Moment der Freude.

Schließlich konnten die Armee und andere Sicherheitskräfte die Leichen von vier Geiseln bergen. Die Mehrheit der Öffentlichkeit sieht die sofortige Freilassung aller anderen Geiseln, tot oder lebendig, als Priorität an, manchmal sogar um den Preis einer Verlängerung des Waffenstillstands. Für die Regierung scheinen die Geiseln keine Priorität zu haben. Politiker der Mitte wie Benny Gantz und Gadi Eisenkott, die dem Kriegskabinett beigetreten sind, drohen mit Rücktritt, was zum Sturz der Regierung führen könnte. Offensichtlich wird dies noch „eine interessante Zeit“ für Israel.

<< Zurück zur Übersicht