Rabbinisches Wort für den Januar
Rabbinisches Wort für Januar 2024
Mit dem Beginn des Jahres 2024 schlagen wir auch in den Synagogen ein neues Buch auf: Im Rahmen der wöchentlichen Torahlesungen fangen wir an, das Zweite Buch Moses/Schemot zu lesen.
Nach den Erzählungen des Ersten Buches Moses/Breschit über die Entstehung der Welt und der Menschheit, über Brudermord und die Fokussierung auf Abraham und seine Nachkommen mit all ihren schwerwiegenden Konflikten kommt nun die Nationalgeschichte Israels in den Blick. In diesen Wochen des dunklen Januar spüren wir schon einen Vorgeschmack vom Seder, dem ersten Abend des Pessachfestes, an dem wir mit Erzählungen und Liedern den Auszug aus Ägypten nachvollziehen. Die vier Gläser Wein oder Traubensaft, die wir im Verlauf des Seders trinken, gründen sich auf die vier Verben, mit denen Gott dem unterjochten Volk Israel die Erlösung verheißt (Ex 6,6-7):
„Ich werde euch hinausführen aus der Knechtschaft Ägyptens und euch erretten (…), ich werde euch erlösen (…) und euch annehmen zum Volk und werde euer Gott sein“.
Doch das Volk kann diese Botschaft nicht wahrnehmen, wie es heißt: „aus Kleinmut und vor schwerer Arbeit“ (Ex 6,9). Sie sind so beschäftigt mit ihrem eigenen täglichen Überleben, dass sie keinen Sinn haben für große Versprechungen und die Ankündigung einer Befreiung, die noch eine lange Zeit benötigen wird. Der häufig als „Kleinmut“ übersetzte hebräische Ausdruck „Kozer Ruach“ heißt wörtlich „Kurzatmigkeit“. Jemand kann nicht tief durchatmen, sich aufrichten und nach vorn schauen. Die Unterdrückung scheint einen ausweglosen Zirkel zu eröffnen: sie führt zu Niedergeschlagenheit, zu einem Gefühl der Perspektivlosigkeit, keine Hilfe scheint in Sicht zu sein. Wie soll es da gelingen, sich jemals wieder aufrichten und durchatmen zu können?
Der Exodus, die Erzählung von der Befreiung aus der Knechtschaft, ist der grundlegende Mythos des Judentums. Wir erinnern daran nicht nur einmal im Jahr zu Pessach. Fast alle jüdischen Feiertage, viele Gebete und Bräuche nehmen auf ihn Bezug, denn der darin liegenden Ermutigung bedürfen wir immer wieder. Der diesjährige Lesezyklus, der am Tag des furchtbaren Massakers der Hamas begann, steht unausweichlich unter dem Eindruck dieser Geschehnisse. Und so begegnet uns der Aufbruch aus der Bedrängnis gerade jetzt, da wir in Schmerz und Resignation zu versinken drohen, uns um die Entführten grämen, die hohen Verluste an Menschenleben in Israel und in Gaza betrauern, verunsichert sind wegen der Vehemenz von Antisemitismus. Unsere Sorgen über den Krieg gegen die Ukraine und die vielen anderen Krisen auf der Welt sind da noch gar nicht angesprochen. Doch in diesen Wochen erhalten wir einen Wink: Nicht die Bedränger werden das letzte Wort der Geschichte haben werden, sondern der Zug zur Freiheit. Wir brauchen nicht auf Pessach warten, um diese Botschaft wahrzunehmen. Jedoch: Hoffnung stellt sich nicht von selbst ein, wir müssen auch den Willen zu ihr haben.
Möge „Kozer Ruach“/Atemnot keine Macht über uns haben und wir die Kraft finden zum Aufbruch aus der Bedrängnis –
Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg
Rabbinerin Ulrike Offenberg