Rabbinisches Wort für den Juli
Rabbiner Moscheh von Kobryn (1784-1858) stammte ursprünglich aus Litauen, wurde aber in der kleinen Stadt nahe Brest in Weißrussland zum Begründer des Kobryner Chassidismus. Dessen Blüte fand erst ein Ende in den Massakern, die die deutsche Wehrmacht 1941-43 unter den jüdischen Einwohnern der Stadt anrichtete. Rabbi Moscheh von Kobryn war bekannt für seine Frömmigkeit, die den Menschen zugewandt blieb. Über ihn sind viele Geschichten überliefert, die von seiner einfachen, direkten Art zeugen. Einmal soll er mit Blick nach oben gerufen haben: „Engel, Engel, es ist keine besondere Kunst, in den Himmeln als Engel zu bestehen. Ihr braucht ja nicht zu essen und zu trinken, Kinder aufziehen und für den Lebensunterhalt sorgen. Kommt doch mal herunter zur Erde und gebt euch mit Essen und Trinken, mit der Sorge für Kinder und Lebensunterhalt ab, dann wollen wir sehen, ob ihr Engel bleibt!“.
Aber Moscheh von Kobryn wollte nicht nur den Himmel auf die Erde holen, sondern auch den Menschen aufzeigen, wie sie sich strecken könnten, um den Himmel unter ihren Füßen zu spüren. Einmal nahm er Bezug auf die Erzählung vom brennenden Dornbusch, in dem sich Gott Mose offenbart und ihm gesagt hatte, er solle seine Schuhe ausziehen, denn der Boden, auf dem er stehe, sei heilig. Diese Aufforderung richte Gott auch an jeden einzelnen Menschen: „Tue die Schuhe von deinen Füßen“ (2.Mose 3,5). Unter Verwendung eines Wortspiels leitete der Kobryner Rebbe daraus ab: „Tue die Gewöhnung (hebr.: Hergel) ab, die deinen Fuß (hebr.: Regel) umschließt, und du wirst erkennen, dass der Ort auf dem du eben jetzt stehst, heiliger Boden ist. Denn es gibt keine Wesensstufe, auf der man nicht, überall und allezeit, Gottes Heiligkeit finden könnte.“
Was uns den Zugang zu Heiligkeit ermöglicht, ist also nicht das Streben nach dem Himmel, sondern gerade unsere Bodenhaftung. Nur müssen wir unsere Augen öffnen, aufmerksam sein und nicht in unseren Gewohnheiten verharren. Die besonderen heiligen Momente ereignen sich im Alltag, wenn wir am Bett eines Kranken sitzen, einen trauernden Menschen trösten, Flüchtlingen praktische Hilfe gewähren, am Leid anderer Anteil nehmen, Geduld im Umgang mit einem schwierigen Gegenüber haben. In jeder solchen Begegnung findet eine Berührung mit Heiligkeit statt.
Wir Menschen sind überhaupt nicht so perfekt wie Engel, sondern mit all unseren Fehlern und Schwächen auf einander angewiesen. Dies ist der Ort, wo wir Menschlichkeit erweisen sollen – und schon stehen unsere Füße auf heiligem Boden.
Einen Sommer mit Himmel unter den Füßen wünscht Ihnen/Euch
Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg