Rabbinisches Wort für den Juli 2025

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Alisa Bach

Zum Wochenabschnitt Beha|alotcha (Numeri 8:1-12:16) 5785 – 2025

Unsere Vorfahren waren alles andere als Vegetarier, und überhaupt: Essen war ihnen sehr wichtig.

Zwar vollbrachte der Ewige Wunder und ernährte das Volk mit dem Man, das täglich vom Himmel fiel. Obwohl der Midrasch behauptet, dass der Geschmack des Mans wechselte (Sifrei 89), heißt es in unserem Wochenabschnitt:

„Nichts ist da, nur auf das Man sind unsere Augen gerichtet.“ (Numeri, 11:6).

Sie stellten aus dem Man Kuchen her, der nach Öl schmeckte – jeden Tag der gleiche Geschmack!

Die Bne Israel litten also keinen Hunger. Es ging ihnen nicht um das bloße Satt-Werden, nein: sie sehnten sich nach einem richtig guten und vielfältigen Essen, und vor allem nach Fleisch. Dabei ging es ihnen bei nicht ums Überleben, sondern sozusagen um Luxusbedürfnisse.

„…und auch die Kinder Israel weinten wieder und sprachen: Wer wird uns Fleisch zu essen geben? Wir erinnern uns der Fische, die wir umsonst aßen in Mizraim, der Gurken und Melonen und des Lauches und der Zwiebeln und des Knoblauchs.“ (Numeri, 11: 4,5).

Es ist nicht das erste Mal, dass die Bne Israel das Vertrauen in Gott und Moses verloren haben – und sie sind weder durch Wunder noch durch harte Bestrafungen klüger geworden. Offenbar waren sie nicht imstande, ihre Sehnsüchte nach gutem Essen durch Gefühle der Dankbarkeit für die wunderbare Rettung aus der Sklaverei und für das Geschenk der Tora zu unterdrücken. Auch, dass Gott sie mit Man ernährte und für trinkbares Wasser sorgte, reichte nicht für beständiges Vertrauen. All diese göttlichen Wohltaten reichten nicht aus, ihr Vertrauen zu festigen – wieder zweifelten die Bne Israel und beklagten sich, und auch ihr eigenes Versprechen, „Alles, was der Ewige geredet, wollen wir tun“‘ (Exodus 19:8) zählte gar nichts gegen die Sehnsucht nach gutem Essen, gegen das Verlangen nach Genuss.

Haben wir hier ein Beispiel für das Prinzip vor uns, das Bertold Brecht so ausgedrückt hat: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“?

Und dabei hat unser Wochenabschnitt so hoffnungsvoll begonnen:

Endlich, nach einem Jahr am Sinai war die Zeit des Aufbruchs gekommen (Numeri, 10:11). Vorbereitungen wurden getroffen. Das ganze Volk beteiligte sich an der Einsetzung der Leviten, deren Aufgabe der Transport des Mischkan, des Stiftszeltes, war. Auf Befehl des Ewigen wurden zwei Trompeten aus Silber gefertigt, die nicht nur die Signale für den Aufbruch und zur Versammlung geben, sondern auch bei Freudentagen und Festen ertönen sollten (Numeri, 10, 1-10). 70 Älteste wurden eingesetzt, die neben Moses die Führung des Volkes übernahmen, und Moses legte die Ordnung fest, in der die Bne Israel die Wanderung durch die Wüste antraten.

An all dem nahm das ganze Volk teil. In großer Einmütigkeit, und ohne jeglichen Widerspruch, folgten sie der Wolke des Ewigen:

„Auf Befehl des Ewigen lagerten sie und auf Befehl des Ewigen brachen sie auf. Das Merkzeichen vom Ewigen bewahrten sie auf Befehl des Ewigen durch Mosche“. (Nuzmeri, 9:23).

Und es heißt weiter:

„Und es geschah im zweiten Jahr im zweiten Monat am zwanzigsten des Monats, stieg die Wolke auf von der Wohnung des Zeugnisses. Und die Kinder Jisrael brachen auf in ihren Zügen von der Wüste Sinai, und die Wolke ließ sich nieder in der Wüste Paran.“ (Numeri, 10:11,12)

Ein zeitgenössischer Kommentator bezeichnet dieses großartige Szenario als „den großen Marsch zum Guten“ (The Grand March to the Good). (Seth Farber, Beha’alotcha. www.MyJewishlearning.com , acc.8.6.2025). Das große Ziel: ein Leben im eigenen Land als freie Menschen mit der göttlichen Gabe der Tora, ein Leben nach moralischen Grundsätzen, zur Verwirklichung von Frieden und Gerechtigkeit.

Aber wie passen die zwei Geschichten unseres Wochenabschnittes zusammen?

Auf der einen Seite ein Volk, das einmütig die Freiheit gewählt hat, ein Volk, welches das Geschenk der Tora freiwillig annimmt und sich aus eigenem Entschluss auf den Weg durch die Wüste in ein selbstbestimmtes Leben im eigenen Land macht. Ein Volk das Gottes Präsenz Tag und Nacht spürt.

Und auf der anderen Seite ein Volk, dem nichts wichtiger ist als Fleisch, Gurken, Melonen, Zwiebeln und Knoblauch. 

Traditionelle Kommentatoren verurteilen das Volk: Rashi hält es generell für schlecht und sieht in dessen hemmungslosen Wünschen einen Vorwand für den Abfall von Gott (Rashi zu Numeri, 11:1). Rabbenu Bahya sieht im Verhalten des Volkes einen Ausdruck der Verachtung, für das, was Gott gegeben hat (zu Numeri 11:5). In seiner auf Josef Soloveitchik basierenden Auslegung des Wochenabschnitts meint der zeitgenössische Rabbiner Seth Farber, dass das jüdische Volk den großen Moment des Aufbruchs zum Guten verdarb, weil es individuellen und momentanen Bedürfnissen den Vorzug gab und die Größe des Augenblicks nicht erkannte. Eine göttliche Chance wurde vertan. (www.myjewishlearning.com, acc. 8.6.2025).

Aber sind diese Urteile gerechtfertigt? Sind sie nicht zu hart? Mir scheint es, als fordere die Tradition vom ganzen Volk Israel, so treu, so gläubig und so standhaft zu sein, wie Moses es war. Das ist viel verlangt. Der Anspruch, ein heiliges Volk zu sein, hat seinen Preis!

Ich frage mich:  Geht es nicht den meisten von uns, die nicht so herausragende Persönlichkeiten sind wie Moses, genauso wie dem Volk Israel in der Wüste? Oft haben wir große Ziele vor Augen, die wir aus vollem Herzen bejahen; wie wissen, dass wir diese Ziele mit Anstrengung und Disziplin tatsächlich erreichen könnten. Aber dann kommt uns etwas in die Quere: wir wollen uns auf Parties vergnügen, im ‚Hier und Jetzt‘ leben, vielleicht trinken wir ab und zu etwas zu viel, spielen an unseren Geräten herum, chatten zu lang mit Freunden, essen gern, chillen bei Musik und so weiter und so weiter. Die großen Ziele geben wir nicht auf, wir haben sie vor Augen und träumen davon, sie zu erreichen.  Gleichzeitig fällt es uns schwer, aer es fällt uns schwer, die Linie zu halten und um der Ziele willen auf Lebensgenüsse zu verzichten. Wir sind nicht so gut im Sublimieren. Ist das nicht alles normal?

Wie die meisten von uns steckten auch unsere Vorfahren in dem Zwiespalt zwischen hohen, dazu noch weit entfernten und beschwerlich zu erreichenden Zielen einerseits und starken Wünschen nach Genuss im Hier und Jetzt andererseits.  Vielleicht ist es dieser Zwiespalt, der den Autor eines Midrasch dazu veranlasste, etwas nachsichtiger mit dem Volk Israel umzugehen:

So wird erzählt: Israel stand vor dem Heiligen, gelobt sei er, und sprach:  „Herr der Welt, Du kennst die Macht des schlechten Triebs, er ist so hartnäckig! Der Heilige, gelobt sei er, sagte zu ihnen: vertreibe den bösen Trieb ein wenig in dieser Welt, und ich will ihn von Dir in der Zukunft entfernen… (Midrasch bemidbar rabba, Kap 15).

Ich denke, dass der tägliche Kampf um Disziplin zur Erreichung der hochgesteckten Ziele der Tora für uns unausweichlich ist – mögen wir ihnen mit Gottes Hilfe näherkommen!

Ihre/Eure Alisha Bach