Rabbinisches Wort für den April 2025

Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg

Es ist Frühling, unübersehbar. Überall setzen blühende Sträucher und Blumen Farbtupfer in die Natur, frisches Grün sprießt aus den Zweigen, neues Leben. Es ist eine Zeit des Aufbruchs, des Knospens und des Werdens. In einem israelischen Kinderlied heißt es: „Aviv higia, Pessach ba“ – der Frühling ist gekommen, nun kommt auch Pessach. Denn auch das Pessachfest feiern wir als eine Zeit des Aufbruchs: Der Auszug Israels aus der Knechtschaft in Ägypten wurde zum Gründungsmythos des Judentums. Und wir stellen uns vor, wir seien dabeigewesen und wären selbst befreit worden. Pessach ist auch für uns heute eine Zeit, all das hinter uns zu lassen, was Unfreisein bedeutet.

Am Sederabend ist unser Tisch voller Symbole: die Bitterkräuter (das harte Los der Israeliten in Ägypten), Charosset (das Apfel-Nuss-Dattel-Mus steht für die in Zwangsarbeit zu fertigenden Lehmziegel, Salzwasser (die in Kummer vergossenen Tränen). All das erinnert uns an die Unterdrückung, dazu die Matzah als „Brot des Elends“. Wir erzählen von der Knechtschaft, aber wir bleiben nicht dort. Im Verlauf des Sederabends ziehen wir in die Freiheit. Davon künden die Texte der Haggadah, aber auch die Vier Gläser Wein oder Traubensaft. Sie beruhen auf den vier Verben der Erlösung in 2.Mose/Exodus/Schmot 6,6-7: „Ich werde euch herausführen, euch erretten, euch erlösen und euch zu meinem Volk machen“.

Der Aufbruch ist noch nicht die endgültige Befreiung. Am 7. Tag Pessach erinnern wir daran, wie die Israeliten, verfolgt von den Ägyptern, das Schilfmeer erreichten. Wieder eine scheinbar ausweglose Situation – bis sich das Meer öffnet und die Israeliten trockenen Fußes hindurchziehen. Das uralte Schilfmeerlied in 2.Mose 15 besingt diese Errettung. Meist wird es als Hymne nach der erfolgreichen Durchquerung des Meeres gedeutet. Aber Nachmanides (Rabbiner Moses ben Nachman, 1194 Girona – 1270 Akko) meinte, das Volk hätte dieses Lied bereits gesungen, als sie mitten am Durchziehen waren und noch nicht das rettende Ufer erreicht hatten. Das Lied ist also ein Ausdruck ihrer Zuversicht in einer Situation größter Ungewissheit. Man singt gegen die Angst an und bestärkt einander in der Hoffnung. Und als die Israeliten hindurchgezogen waren, wartete am anderen Ufer noch nicht das Verheißene Land, sondern erst einmal die Wüste und ein langer, langer Weg hindurch. Viel Ausdauer, Mut und Widerstandskraft waren nötig, um dorthin zu gelangen.

Ein Blick zurück auf die Pessachgeschichte kann uns Ermutigung geben in Zeiten, da auch auf uns beängstigende Nachrichten einstürmen und Unsicherheit über die Zukunft an uns nagt. Mitten im Wandern auf unsicherem Grund sollen wir nicht aufhören, Lieder der Hoffnung zu singen und Rituale des Aufbruchs in die Freiheit zu praktizieren. Wir dürfen unsere Zuversicht nicht aufgeben, denn wir brauchen sie, um einen langen Atem zu haben. Möge dies ein Chag HaCherut Sameach, ein fröhliches Fest der Freiheit, für uns alle werden, besonders aber für unsere Brüder und Schwestern, die noch immer in Geiselhaft gehalten werden, und für alle unschuldigen Gefangenen dieser Welt.

Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg