Rabbinisches Wort für den November
Da ich diese Zeilen schreibe, sind fast drei Wochen seit dem vom Hamas am 7. Oktober 2023 begangenen Massaker vergangen. Der Abgrund, der sich seither vor uns aufgetan hat, ist kaum zu ermessen: Die Trauer um die etwa 1.400 ermordeten Menschen – Kinder, Frauen, Männer, Israelis und Menschen anderer Staatsangehörigkeit – ist nicht in Worte zu fassen. Groß ist unser Entsetzen angesichts der Nachrichten über die ganz persönliche Grausamkeit und den Sadismus der Mörder. Wir sind voller Bangen um die mehr als 220 Entführten, vom Kleinkind bis zum Greis. Wir hoffen und beten, dass diplomatische Bemühungen das Wunder bewirken mögen, sie schnell zu ihren Familien und in ihre Heimat zurückzubringen.
Inmitten unserer Sprachlosigkeit beginnt sich die Bezeichnung „Simchat-Torah-Pogrom“ einzubürgern, weil es an dem Tag stattfand, an dem wir die Lesung der Torah vollenden und neu beginnen. In der Konfrontation mit dem Massaker gehen wir in diesen Wochen mit der Torah ganz an den Anfang zurück und fragen mit Paraschah „Breschit“: Ist der Mensch, sind wirklich alle Menschen im Ebenbild Gottes geschaffen? Was bedeutet es, dass zu Beginn des Menschwerdens die Fähigkeit zum Unterscheiden zwischen Gut und Böse steht? Und der Wochenabschnitt „Noach“ legt uns die Frage vor, wie wir nach einer Katastrophe wieder unsere Welt aufbauen können. „Lech Lecha“ beschreibt, wie Abraham alles tut, um seinen entführten Neffen Lot aus der Gefangenschaft zu befreien. Und „Wajera“ sagt uns deutlich, dass es keinen religiösen Fanatismus geben darf, der auf die Tötung von Menschen setzt.
Hier ein Gebet für diese Zeit der Bedrängnis:
Unser Gott, der Du Gefangene befreist und ein Halt für Bedrückte bist,
sende vollständige Rettung und Befreiung all denen,
die in der Gefangenschaft des Feindes sind.
Stärke ihren Geist mit Zuversicht, lass sie wissen, dass unsere Gedanken
und Gebete um Bewahrung vor allem Bösen sie begleiten.
Gib den israelischen Streitkräften Weisheit, damit sie die Gefangenen
ohne Verlust an Leben befreien können.
Pflanze in das Herz der Feinde Einsicht und Umkehr, damit sie die Entführten unversehrt an Körper und Seele zurückführen, und Mitgefühl haben mit ihrer eigenen Bevölkerung.
Du Gott Abrahams, Sarahs und Hagars, bewahre die unschuldigen Zivilisten Gazas.
Quelle unseres Lebens, tröste die Trauernden und die sich sorgenvoll um das Schicksal ihrer Angehörigen Grämenden. Gib Trost den gebrochenen Herzen, Heilung den traumatisierten Menschen.
Fels und Erlöser Israels, stärke die Verteidiger des Staates Israel, die Soldaten, die Soldatinnen und die Zivilisten. Erfülle sie mit Kraft und Mut, mit Vertrauen und Hoffnung. Behüte sie inmitten von Raketenhagel, Beschuss und Terror.
Segne auch alle Jüdinnen und Juden in der Diaspora, dass wir in Sicherheit wohnen, bewahrt vor Hass und Anfeindung, stolz auf unser Judentum und stark in der Liebe zum Land von Zion und Jerusalem.
„Der Ewige gebe seinem Volk Stärke, der Ewige segne sein Volk mit Frieden“ (Psalm 29,11).
Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg