In der Mischnah, dem Kern der Mündlichen Torah, die etwa um 200 u.Z. von hochgelehrten Rabbinern um Rabbi Jehudah HaNassi aufgeschrieben wurde, findet sich der bemerkenswerte Satz (Sprüche der Väter 4:1):
„Ben Soma lehrt: Wer ist weise? Wer von jedem Menschen lernt.“
Rabbi Schimon ben Soma war für seine große Gelehrsamkeit berühmt und gehörte zu führenden Rabbinern, die das Judentum aufbauten, nachdem die Römer das Heiligtum in Jerusalem zerstört hatten. Heute wird das als die „Rabbinische Revolution“ bezeichnet, denn an die Stelle des Opferdienstes trat nun das Torahstudium. Sie bewahrten den Tempel in der Erinnerung, aber setzten der historischen Katastrophe das Lernen entgegen: Dezentrale Lehrhäuser entstanden, die durch Boten und Wanderrabbiner ihre Erkenntnisse und Interpretationen austauschten. Es war dieses identitätsstiftende Lernen, gegen das die Römer und alle folgenden Herrscher machtlos waren, und das das Judentum seit 2.000 Jahren erhält und fortentwickelt.
Umso überraschender ist die Aussage von Ben Soma, der inmitten dieser Kultur der Lehrhäuser wirkte, aber nun uns sagt: Der Ort des Lernens und des Erlangens von Weisheit ist nicht unbedingt das Bet Midrasch, eine Akademie oder eine andere Studieneinrichtung. Weise wird vielmehr, wer das ganze Umfeld mit allen seinen Gegebenheiten zum Ausgangspunkt des Lernens macht. Jedes Gegenüber, jeder Mitmensch hat etwas, das uns bereichert und von dem man lernen kann. Denn Weisheit ist keine Eigenschaft, die durch akademische Abschlüsse und Titel nachgewiesen wird. Überhaupt ist nicht der Intelligenzquotient entscheidend, sondern vor allem: Bescheidenheit. Weise Menschen wissen um die eigene Begrenztheit und begnügen sich nicht mit dem erworbenen Wissen. Vielmehr begreifen sie sich als beständig Lernende und betrachten die ganze Welt als Ort des Erkenntnisgewinns. Jedes Gegenüber kann ihnen zum Lehrer oder zur Lehrerin werden, weil jeder Mensch etwas Einzigartiges mitzuteilen hat. In der Begegnung wird ein je neuer Ausschnitt unserer Wirklichkeit erfahrbar, der bisher der eigenen Perspektive verschlossen war. Und das bringt nicht allein Wissenszuwachs, sondern erhält eine spirituelle Dimension, weil unser Gegenüber eine andere Facette von Gottes Ebenbild repräsentiert und uns so die Gegenwart und die Unendlichkeit Gottes erkennen lässt. Sobald man aber anfängt, sich selbst als weise zu betrachten, hört man auf zu lernen und verkümmert, geistig und geistlich.
Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg