Im ANU, dem neuen Museum des Jüdischen Volkes in Tel Aviv, steht am Eingang zur Ausstellung ein Kunstwerk, das viele Assoziationen auslöst. Es ist eine Skulptur, die aus tausenden Ziffernblättern alter Armbanduhren besteht. Sie stammen aus verschiedenen Ländern, mal eckig, mal rund, mit römischen oder arabischen Zahlen oder auch nur mit Strichen beschriftet. Manche haben noch Zeiger, andere nicht. Sie sind, eins am andern, auf langen Metallbändern aufgereiht, die zur Form eines Trichters gedreht sind. Es ist, also ob alle diese individuellen Zeiten zusammen eine Spirale bilden, die zu einem Zentrum hinführt. Die Lebenszeiten derer, denen diese Uhren gehörten, verbinden sich zu einer großen gemeinsamen Geschichte. Man muss schon nahe herangehen, um die einzelnen Zifferblätter erkennen zu können, aber fehlte eines, wäre dort ein dunkles Loch.
All diese Uhren dienten einmal dazu, die Zeit anzuzeigen und um ihre Besitzer – unabhängig vom persönlichen Zeitgefühl eines jeden Menschen – in den Rhythmus der Gemeinschaft einzubinden. Etwas ähnliches erleben wir gerade mit der Omer-Zeit, die sich von Pessach bis Schawuot erstreckt. Vom zweiten Pessachtag an zählen wir jeden Abend die Tage des Omer, bis wir am fünfzigsten Tag das Schawuotfest begehen. Die tägliche Zählung verbindet diese beiden Feiertage wie mit einem Maßband. Doch geht es hier nicht um eine mathematische Übung – das Datum der Feste ließe sich auch einem Kalender entnehmen. Es ist eine spirituelle Wanderung, die mit dem Auszug der Israeliten aus Ägypten beginnt und zur Gabe der Torah am Sinai hinführt. Zuerst mussten die Menschen ihre physische Freiheit erfahren, um dann auch geistig frei werden zu können für die Annahme einer neuen Lebensordnung. Schritt für Schritt führt jeder Tag in der Omer-Zeit weg von der Knechtschaft hin zur Selbstbestimmung. Die Torah wurde als Verfassung für Israel als Volk und als Wegweiser für jedes Individuum in Israel angenommen, aber sie wurde mit ihrer Forderung, eine Ordnung von Recht und Gerechtigkeit zu errichten, auch prägend für andere Völker.
Wir zählen also fünfzig Tage bis zur Ankunft am Sinai, und wir tun dies in aufsteigender Folge, beginnend mit 1. Aber wenn der Akt der Gabe der Torah doch so bedeutsam für die Zukunft ist, warum zählen wir dann nicht in Form eines Countdown: Noch 30 Tage, noch 20, noch 10…? Die Antwort ist: Weil unser Weg nicht am Sinai endet. Es geht danach weiter – mit der Torah, auf dem Weg ins eigene Land und auf einen langen Weg durch die Geschichte, in der sich die Geschicke der einzelnen Menschen in Freud und Leid mit der Wanderung des jüdischen Volkes verbindet. Persönliche Wünsche, Hoffnungen, Ziele sind eingewoben in das Schicksal der Gemeinschaft, von ihr beeinflusst und zu ihr beitragend. Ganz so, wie die privaten Uhren der Einzelnen sich zu einem langen Band jüdischer Geschichte verknüpfen.
Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg