Vom Begründer des Chassidismus, Rabbi Israel Baal Schem Tov, wird erzählt, dass er, wann immer die jüdische Gemeinschaft von Unglück bedroht war, in einen Wald ging, an eine bestimmte Stelle, um zu meditieren. Dort entzündete er ein besonderes Feuer und sagte ein spezielles Gebet – und das Unglück konnte abgewendet werden. Nach seinem Tod übernahm sein Schüler, der Maggid von Meseritsch, die Führung der chassidischen Bewegung. Auch zu seinen Zeiten gab es genug Anlässe, sich um das Volk zu sorgen, und so versuchte auch er zu helfen. Er ging zu derselben Stelle in diesem Wald und sagte zu Gott: „Herr des Universums, höre! Ich kann das Feuer nicht entfachen, aber ich kenne den Ort und ich kann das Gebet sprechen“. Es heißt, dass dies half. Viele Jahre danach versuchte Rabbi Moscheh-Leib von Sassov, das jüdische Volk vor Unglück zu bewahren und ging in diesen Wald. Er sagte: „Ich kann weder das Feuer entfachen noch kenne ich das Gebet, aber ich kenne den Ort“. Später wurde Rabbi Israel von Rushin ein bedeutender Führer, der eine besondere Verantwortung trägt, das Volk zu schützen. Er aber blieb in seinem Haus sitzen, hielt den Kopf in den Händen und sprach zu Gott: „Ich kann dieses Feuer nicht mehr entfachen, ich kenne das Gebet nicht und ich kann nicht einmal diesen speziellen Ort im Wald finden. Das einzige, das ich tun kann, ist, diese Geschichte zu erzählen. Und das muss ausreichen.“ Und es genügte.
Pessach ist das Fest des Geschichtenerzählens. Den ganzen Sederabend lang erzählen wir die Geschichte Israels in Ägypten und vom Auszug aus der Knechtschaft. Und es heißt in der Haggadah: „Wer viel davon erzählt, sei gepriesen!“. Es geht dabei nicht nur um das Nacherzählen von längst Vergangenem – wir sollen so berichten, als ob wir selbst gerade erst aus der Knechtschaft ausziehen. Symbole wie Matzah, Bitterkräuter, Salzwasser, „Lehm“ (Charosset) helfen uns bei der Vergegenwärtigung, aber ebenso wichtig ist es, auch unsere eigenen Geschichten von Unterdrückung und Befreiung zu erzählen. So verflechten sich jüdische Lebensgeschichten über die Jahrtausende hinweg. Wir kennen nicht den konkreten Ort, wo die Hütten der Israeliten in Ägypten standen, wo genau sie das Schilfmeer durchquerten, aber in uns brennt weiter der Gedanke des Aufbruchs und der Befreiung. An ihm können wir uns auch in Zeiten von Unfreiheit, Krieg und Leid festhalten, denn wir wissen, dass Pharao nicht das letzte Wort behalten wird. Unsere Geschichte ist eine der Hoffnung, und davon erzählen wir unseren Kindern, damit auch sie sich stolz in die Tradition einreihen, Teil Israels zu sein und den Gedanken von Freiheit wachzuhalten.
Ich wünsche uns allen ein schönes, koscheres und fröhliches Pessachfest, allen Christinnen und Christen frohe Ostern und den muslimischen Freunden und Freundinnen Ramadan Karim –
Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg