Gedanken zu Purim

Vier Mitzwot legt uns die jüdische Tradition zu Purim auf:

  1. Das Lesen der Megillah, des Buches Esther,
  2. Eine Festmahlzeit,
  3. Das Übersenden von kleinen, essbaren Aufmerksamkeiten an Freunde und Bekannte, und
  4. Das Spenden von Geld an Bedürftige, damit auch diese sich eine Festmahlzeit leisten können.

Das Buch erzählt in der Form einer Komödie von einer sehr ernsten Sache, nämlich einem geplanten Genozid. Die eben genannten vier Mitzwot sind schon im 9. Kapitel des Esther-Buches angeordnet, und sie haben Jüdinnen und Juden über Jahrhunderte hinweg daran erinnert, dass es Menschen gibt, die durchaus keine Skrupel haben, anderen Menschen die schlimmsten Dinge anzutun. Und weil es Mitzwot sind, die niemand für sich allein erfüllen kann, sagen sie uns, dass wir die Gemeinschaft und ihren Zusammenhalt benötigen, um mit herausfordernden Zeiten umgehen zu können.

In diesen Tagen jährt sich der Überfall Russlands auf die Ukraine. Es war ein Jahr voller Schreckensnachrichten, und es gibt niemanden unter uns, der nicht davon berührt ist. Es sind die Heimatorte vieler Gemeindemitglieder, die nun als Kriegsgebiet ausgewiesen sind, die Sorgen um dort noch lebende Familienmitglieder und Landsleute treiben viele um, und schon wenige Tage nach Kriegsbeginn kamen die ersten Flüchtlinge in Hameln an. Viele Kinder, Frauen und Männer müssen hier einen neuen Start wagen, in fremder Sprache und Umgebung, stets mit dem bangen Blick auf das Handy wegen der Nachrichten aus der Ukraine. Und neben diesen existentiellen Herausforderungen ist wohl für die meisten von uns eine Weltsicht und ein Geschichtsbild zusammengebrochen, das uns diese Entwicklungen nicht für möglich halten ließ. Und ich muss es ausdrücklich für mich selbst sagen: Wie naiv und auch wie ignorant war ich, viele Zeichen nicht deuten zu können! Es schien undenkbar, dass nach all dem im Zweiten Weltkrieg erlittenen Leid nun von Russland Krieg ausgehen würde. Täglich sterben hunderte an der Front, Angriffe und Gräueltaten richten sich auch gegen die Zivilbevölkerung und die Zerstörung der Infrastruktur in der Ukraine ist unermesslich.

Die Mitzwot von Purim mahnen uns zur Anteilnahme und Hilfeleistung. Wir hoffen und beten, dass dieser Krieg bald ein Ende findet. Mit den Worten des einst in der Ukraine wirkenden bedeutenden chassidischen Rabbiners Nachman von Brazlaw :

„Möge es Dein Wille sein, Ewiger, dass die Kriege und das Blutvergießen von der Welt verschwinden. ‚Möge kein Volk gegen ein anderes das Schwert erheben noch weiterhin Krieg lernen’ (Jes 2,4), mögen doch alle Bewohner der Erde erkennen, dass wir nicht auf diese Welt kamen, um einander in Streit und Zwist, mit Hass, Neid, Verleumdung und Blutvergießen zu begegnen.“ Ken jehi razon, möge es so sein.

Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg

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