Rabbinisches Wort

Wieder gehen wir auf ein Neues Jahr zu: Am 25./26. September werden wir Rosch HaSchanah, den Beginn des Jahres 5783, begehen. Der Sinn von Jahresanfängen besteht darin, die Routine unseres Lebens zu unterbrechen, indem in den Fluss der Zeit hinein ein Punkt gesetzt wird, der den Abschluss von Vergangenem und den Beginn von Neuem verheißt. Ein Jahreswechsel lädt zu Rückschau ein und zu einer Besinnung darüber, wo Veränderung nötig ist und mit welchem Ziel wir die vor uns liegende Zeit gestalten wollen. Der Beginn eines Neuen Jahres wird in den meisten Kulturen fröhlich und festlich begangen, denn mit einem Neuanfang ist ja viel Hoffnung auf eine Besserung der
Verhältnisse verbunden. Runde Challah, Apfel und Honig, Granatapfelkerne und viele andere Symbole von Rosch HaSchanah drücken diese Segenswünsche aus. Für die jüdischen Hohen Feiertage ist der Prozess der Introspektion ja der wesentliche Inhalt dieser Phase des Jahres. Schon im jetzigen Monat Elul, der Rosch HaSchanah vorangeht, sind wir aufgefordert, nachzudenken über unsere Lebensweise. Jede/r Einzelne soll sich der Prüfung der eigenen Worte und Taten unterziehen und Ansatzpunkte für Veränderung finden. In der Summe wirkt sich solch ein persönlicher Prozess der Änderung dann auch gesellschaftlich aus. Rosch HaSchanah ist ebenso der Tag, an dem wir der Erschaffung der Welt gedenken. Auch das ist ein Thema, dessen wir uns im zurückliegenden Jahr mit besonderer Dringlichkeit bewusstwurden. Der Klimawandel bedroht nicht nur irgendwelche Inselgruppen im Pazifik, sondern ist auch für uns hier deutlich wahrnehmbar durch die Hitzewellen und die Dürre dieses Sommers. Die Wälder und Gärten lechzen nach Regen, eine für unsere Mitglieder geplante Dampferfahrt konnte nicht stattfinden, weil der Wasserstand der Weser zu niedrig ist. Es ist wichtig, dass wir aus Anlass der Hohen Feiertage unser Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen kritisch betrachten, doch auch unser Umgang mit der Umwelt sollte Teil unserer Selbstprüfung sein. Vom Kotzker Rebbe, Rabbiner Menachem Mendel Morgensztern (1787-1859, Polen), wird erzählt, dass er einmal einen jungen Mann sah, der mit großem Genuss Fisch aß. „Ich liebe Fische!“, erklärte ihm dieser. Der Rebbe gab ihm darauf eine ironische Antwort: „Freilich liebst du die Fische! Du liebst sie so sehr, dass du sie aus ihrem Lebenselixier, dem Wasser, ziehst, ihnen den Kopf abschlägst und sie kochst. Junger Mann, du liebst nicht die Fische, sondern dich selbst. Weil dir der Fisch schmeckt, hast du ihn getötet und gegessen!“. Auf drastische Weise hielt der Kotzker Rebbe dem jungen Mann (und uns) eine verlogene Haltung vor, die meint, wegen unserer Konsumbedürfnisse Raubbau an der Natur betreiben zu dürfen. Unsere Lebensweise ist ziemlich egoistisch. Klimawandel, Waldbrände, vergiftete oder austrocknende Flüsse machen uns eindrücklich klar, dass wir Menschen nicht Herren über die Schöpfung sind, sondern ein Bestandteil davon und abhängig von einem Interessenausgleich zwischen allen Lebensformen. Aber Einsicht ist der erste Schritt zur Veränderung. Wenn wir das uns Menschen Mögliche tun, bleibt der Jahresanfang eine Zeit der Hoffnung.

Zum Beginn des Jahres 5783 grüße ich uns alle mit den Worten eines alten Gebets (Rabbiner Schmaya Kosson, Marokko, 16. Jahrhundert):
„Möge es uns vergönnt sein, in diesem Jahr die Freundlichkeit Gottes zu erfahren,
unsere Kümmernisse ersetzt werden durch freudige Ereignisse.“


Mögen wir alle zu einem Jahr voller Gesundheit, Freude und Frieden eingeschrieben werden.
Ihre / Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg