Ein Brückenbauer
„Morgen habe ich eine Beerdigung. Anschließend muss ich nach Hamburg, bei der Nordelbischen Kirche einen Vortrag halten. Am 8. komme ich aus Lüneburg zurück, nachmittags Vorstandssitzung. Machen Sie keine Termine.“ Dienstag ein Interview, Mittwoch Schulführung durch die Synagoge. Freitag wieder Sprechstunde. Gottesdienst am Schabbat. Jetzt noch die Termine für die Lehraufträge an den Universitäten Marburg und Münster einflechten, dazwischen Gespräche, Telefonate, gute Worte. Der Montag bleibt frei. „Meine Frau würde mich sonst umbringen.“
Eine Woche im Leben von Rabbiner Brandt, so ist es in dem Buch Freude an der Tora, Freude am Dialog. Diese Begriffe – Freude an der Tora – Freude am Dialog charakterisieren ihn gut. Im Dialog war er aktiv und die Freude an der Tora brachte er in ihn ein.
Henry G. Brandt wurde 1927 in München als Heinz Georg Brandt geboren. 1939 floh er mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten nach Israel. Er diente im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Für die Rabbinatsausbildung entschied er sich als zweiten Berufsweg. Er studierte am Leo Baeck College in London und wurde dort zum Rabbiner ordiniert. Anfang der 1980er Jahren zog er nach Deutschland.
In den Jahren seines Wirkens in Hannover – als Landesrabbiner von Niedersachsen von 1983-1995 – spielte Rabbiner Brandt eine wichtige Rolle als Partner im christlich-jüdischen Dialog in der Hannoverschen Landeskirche. So wirkte er z.B. oft an den Dialogen mit, zu denen Stadtsuperintendent Hans Werner Dannowski in die Marktkirche einlud. Es begann im Januar 1986. Das Besondere dieser Gespräche über theologische Themen bestand darin, dass sie auf Augenhöhe stattfanden und von wechselseitiger Wertschätzung getragen waren. Eine Selbstverständlichkeit, so scheint es aus der Perspektive der Gegenwart. Für viele Christ*innen und Christen in Hannover war dies eine neue, aufregende Erfahrung.
Rabbiner Henry Brandt war im Rahmen der Entstehung der Synodalerklärung der Hannoverschen Landeskirche zum Judentum ein wichtiger Gesprächspartner, der an vielen Sitzungen und Gesprächen teilnahm. Er war dabei immer freundlich und zugewandt, suchte Brücken zu bauen und war zugleich klar und deutlich, wenn Grenzen überschritten wurden. So z.B. beim Eintreten einiger Theologen für eine Mission unter Juden. Da gab es keine Diskussion – eine klare Absage an Mission war die Voraussetzung eines Dialogs auf Augenhöhe. Ich erinnere mich noch gut an die Tagung, die im Vorfeld der Verabschiedung der Erklärung der Synode in Loccum stattfand. Damals war ich eine junge Vikarin. Rabbiner Brandt war eine Autorität: seine Stimme wurde gehört, wenn er sich zu Wort meldete. In meiner Erinnerung verkörperte er die Stimme der Vernunft: klar, rational, abwägend und konziliant. Religion und gesunder Menschenverstand schlossen sich keineswegs aus, sondern gehörten für ihn zusammen.
Als die Erklärung der Synode dann verabschiedet wurde, begrüßte er die Stellungnahme und sagte: „Für unser aller Wohl und Heil hoffe ich, dass die Hannoversche Landeskirche mit Herz und Tatkraft eindeutig zu ihren Worten stehen wird und dass dadurch das Licht von Gottes Liebe und Wahrheit stärker als bisher in unserer Mitte wirksam werden kann.“ Kein Lob, keine Zufriedenheit, sondern Hoffnung auf Gutes, das sich erst erweisen wird – oder auch nicht.
Der Dialog war Henry Brandt eine Herzensangelegenheit: Von 1985 bis 2016 war er jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Immer wieder sprach er auf Kirchentagen, hielt Vorträge und Vorlesungen an Universitäten, so in Hannover und Osnabrück, in Marburg und Münster. Ich bin sicher, dass er den Studierenden der Theologie, vielfältige neue Zugänge zur Bibel, zum religiösen Denken und auch Perspektiven zum Judentum ermöglicht hat. Für sein Wirken erhielt er zahlreiche Ehren, auch die Ehrendoktorwürde.
Henry Brandt hatte auch Humor: in einem autobiographischen Bericht schildert er, dass er seine spätere Frau Sheila bei einem Synagogenbesuch in London kennenlernte. Dies kommentierte er mit den Worten: Wer sagt, dass Frömmigkeit nicht manchmal ihren Lohn findet?!
Henry Brandt war ein Pionier des christlich-jüdischen Dialogs, ein zugewandter, wohlwollender und verlässlicher Partner, dem die Hannoversche Landeskirche und der christlich-jüdische Dialog in Deutschland viel verdanken.
Über viele Jahre hinweg unterstützte und beriet Henry Brandt die Liberale Jüdische Gemeinde in Hannover und war ihr sehr verbunden, war er doch gleichsam der Vater ihrer Entstehung. Zuletzt war er vor wenigen Jahren noch zu einer Vorstellung seines neuesten Buches in Hannover und las daraus vor: die wechselseitige Verbundenheit war deutlich zu spüren.
Von 1995 bis 2005 war Henry Brandt Landesrabbiner von Westfalen-Lippe. Danach wirkte er Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg bis 2019. Innerhalb des liberalen Judentums in Deutschland hatte seine Stimme eine besondere Bedeutung. So war er von 2004 bis 2019 war Brandt Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands.
„Mit ihm verlieren Deutschland und die jüdisch-deutsche Gemeinschaft eines ihrer wichtigsten Gesichter und eine ihrer eindringlichsten Stimmen.“ – so die frühere Zentralrats-Präsidentin Charlotte Knobloch.
Sichrono lewracha: Möge sein Andenken uns zum Segen werden.
Dr. Ursula Rudnick