
Autorin:
Dr. Deborah Weissman
Nach 660 Tagen dieses sehr langen und sehr schwierigen Krieges, gestattete Israel endlich eine „taktische Pause” in den Kämpfen. Zudem wurden Luftabwürfe von Lebensmitteln und medizinischen Hilfsgütern für Gaza genehmigt. Dies ist zweifellos auf ausländischen Druck zurückzuführen. Premierminister Netanjahu wartete damit bis zur Sommerpause der Knesset. Er wollte die heftigen Einwände vermeiden, die von seinen rechtsextremen Koalitionspartnern gekommen wären. Die israelische Regierung besteht darauf, dass es in Gaza keine Hungersnot gibt. Der größte Teil der Welt – einschließlich einiger israelischer Menschenrechtsgruppen – sieht das anders und verwendet den Begriff „Völkermord” verwendet, um die dortigen Ereignisse zu beschreiben.
Damit eine Kampagne als Völkermord gilt, muss sie die Absicht zum Völkermord erkennen lassen. Es gibt keine offizielle Erklärung der Regierung oder des Militärs, ein Volk zu vernichten, aber es gibt gibt extremistische Gruppen innerhalb der israelischen Bevölkerung, die eine ethnische Säuberung der Bevölkerung in Gaza wollen, um eine jüdische Wiederbesiedlung zu ermöglichen.
All dies geschieht genau zwanzig Jahre nach dem Rückzug aus dem Teil des Gazastreifens, Gush Katif, in dem fast 8.000 jüdische Siedler lebten. Viele von ihnen und ihre Unterstützer wünschen sich eine Rückkehr und den Wiederaufbau ihrer Gemeinden, die unter Premierminister Ariel Sharon evakuiert wurden.
Ein öffentlicher Fernsehsender strahlte kürzlich eine dreiteilige Dokumentation über die Erfahrungen mit dem Rückzug aus, in der beide Seiten gezeigt wurden. Nun wird es eine sechsteilige Dramaserie geben, die diese Zeit fiktional darstellt. Das Thema ist derzeit sowohl in den Printmedien als auch im Fernsehen sehr präsent.
Mehrere Länder, angeführt vom französischen Präsidenten Macron, haben den Staat Palästina anerkannt. In den nächsten ein bis zwei Monaten, insbesondere während der Tagung der UNO in New York, werden vermutlich viele andere Länder diesem Beispiel folgen. Dies wird Israel weiter entfremden und isolieren. Netanjahu reagierte darauf mit einem Schreiben an Macron und den australischen Premierminister Albanese. Darin deutete er an, dass der Anstieg des Antisemitismus in ihren Ländern eine Folge ihrer Unterstützung für Palästina sei.
Zum ersten Mal forderten die Staatschefs von Katar, Saudi-Arabien, Ägypten und anderen arabischen Ländern die Hamas auf, ihre Waffen niederzulegen und die Macht im Gazastreifen abzugeben. Am 29. Juli unterstützten 22 Mitglieder der Arabischen Liga, die gesamte Europäische Union sowie 17 weitere Länder bei einem von Saudi-Arabien und Frankreich einberufenen Treffen eine Erklärung der UNO, in der eine Zwei-Staaten-Lösung gefordert wird. Die offizielle israelische Reaktion war, dass all dies ein „diplomatischer Tsunami“ sei. Einige Israelis betrachteten dies jedoch als Belohnung für Terrorismus. Die israelische Friedensbewegung „Peace Now“ bezeichnet dies hingegen als „Segen“ und weist darauf hin, dass es sich nicht um eine Belohnung für Terrorismus handelt, da die Hamas eine Zwei-Staaten-Lösung niemals unterstützt hat.
Die israelische Regierung versucht nach wie vor, ihre Rechtsberaterin – eine Art Generalstaatsanwältin – zu entlassen. Gegen Gali Baharav-Miara gibt es Angriffe. Sie ist nicht unbedingt linksgerichtet, hält sich aber strikt an die Rechtsstaatlichkeit. Ihre Entlassung würde die Annexion des Westjordanlands und die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen erleichtern. Bislang waren die Versuche jedoch erfolglos. Zu diesen Maßnahmen gehört auch der Tag Anfang August, an dem sie und ihre Mitarbeiter aus ihren Büros ausgesperrt wurden. Diese Maßnahme wurde vom Justizminister Yariv Levin veranlasst, der zu den Architekten der im Januar 2023 begonnenen Justizreformbewegung zählt. Er hat vorgeschlagen, sich einfach über den Obersten Gerichtshof hinwegzusetzen und den Generalstaatsanwalt zu ignorieren. Die Knesset hat bereits für einen nicht bindenden Antrag zur Annexion des Westjordanlands gestimmt.
Viele Juden im Ausland, darunter der Oberrabbiner Großbritanniens, der orthodoxe Rabbiner Ephraim Mirvis, haben zur Unterstützung der Bevölkerung im Gazastreifen aufgerufen. In der dritten Augustwoche schlossen sich ihm achtzig weitere orthodoxe Rabbiner aus Israel und der Diaspora an. Die nicht-orthodoxe Welt hatte sich schon viel früher zu Wort gemeldet. Offensichtlich befinden sich Juden, die die Existenz und das Gedeihen des Staates Israel unterstützen, aber nicht die Politik seiner gegenwärtigen Regierung, in einem Dilemma. Ein ähnliches Dilemma erleben auch Nichtjuden, die Israels Recht auf Selbstverteidigung unterstützen, aber Mitgefühl und Sorge für die Notlage der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland empfinden. Persönlich möchte ich auf die Erklärung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 28. Juli hinweisen. Meiner Meinung nach ist diese differenziert und ausgewogen: sie fordert Dialog, Gerechtigkeit, Frieden und Sicherheit für alle Menschen im Nahen Osten.
Der 9. Av, der dieses Jahr auf den 3. August fiel, ist ein traditioneller Fasten- und Trauertag zur Erinnerung an die Zerstörung der beiden jüdischen Tempel in Jerusalem. In diesem Jahr führte der nationalistische Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der wohl extremste Vertreter der rechten Regierung, eine Gruppe von mehr als 3.500 Juden zum Gebet auf den Tempelberg. In dieser Woche beschloss die Regierung, die Kämpfe in Gaza gegen den Willen der israelischen Streitkräfte auszuweiten und möglicherweise den gesamten Gazastreifen wieder zu besetzen. Diese Entscheidung könnte sich negativ auf die noch in Gefangenschaft befindlichen Menschen auswirken, deren sichere Rückkehr der ursprüngliche Grund für diesen Krieg war. Einige Mitglieder der Regierung haben offen darüber gesprochen, die verbleibenden Geiseln zu opfern. Mit Unterstützung der meisten Familien der Geiseln fand am 17. August in Israel ein Generalstreik statt. Mitten am Tag feuerten die Houthis im Jemen eine Rakete ab, die viele Israelis in ihre Schutzräume trieb. Sie wurde jedoch abgefangen und verursachte keinen ernsthaften Schaden. Umfragedaten haben gezeigt, dass die Mehrheit der Israelis ein Abkommen befürwortet, das alle Geiseln nach Hause bringt, die Kämpfe beendet und Verhandlungen über die Zukunft des Gazastreifens ermöglicht.
Heute ist der 25. August. Ein Krankenhaus im Süden des Gazastreifens wurde getroffen, wobei fünfzehn Menschen, darunter vier Journalisten, ums Leben kamen. Die IDF untersucht diesen Vorfall. Es ist unklar, ob der Angriff von der israelischen Luftwaffe durchgeführt wurde. Der Labour-Abgeordnete und Reformrabbiner Gilad Kariv sagte als Reaktion auf den Angriff Folgendes: „Es ist entscheidend, diesen Vorfall nicht aus dem Gesamtzusammenhang zu lösen. Die Fortsetzung und Ausweitung des Krieges wird unzählige weitere Vorfälle dieser Art nach sich ziehen. Israel kann sich das weder moralisch, noch ethisch noch diplomatisch leisten. Der Krieg darf nicht ausgeweitet werden. Er muss schnell beendet werden.“
Jerusalen, den 29. August 2025
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