Lesetipp im Juli

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„trotzdem sprechen“  (Lena Gorelik, Miryam Schellbach, Mirjam Zadoff)

Die Beiträge namhafter Autorinnen und Autoren – darunter Carolin Emcke, Durs Grünbein, Nazih Musharbash und viele andere – widmen sich der Frage, wie Kommunikation und Dialog angesichts von Polarisierung, Angst und Sprachlosigkeit aufrechterhalten werden können. Der Band entstand vor dem Hintergrund der Ereignisse rund um den 7. Oktober 2023, dem Terrorangriff der Hamas auf Israel, und den darauf folgenden Entwicklungen im Nahen Osten und in Deutschland.

Die Beiträge nehmen ihren Ausgangspunkt bei der Erfahrung, dass nach dem 7. Oktober 2023 viele Menschen in Deutschland sich isoliert, verängstigt oder sprachlos fühlen. Offene Briefe, Veranstaltungsabsagen, das Auflösen alter Allianzen und die Erfahrung von Antisemitismus und Rassismus prägen das gesellschaftliche Klima. Die Herausgeberinnen stellen die Frage, wie es gelingen kann, trotz aller Differenzen und Verletzungen im Gespräch zu bleiben – und warum dies gerade jetzt wichtiger denn je ist.

Der Band versammelt rund 20 Beiträge aus verschiedenen literarischen, essayistischen und poetischen Genres und enthält ein Gespräch. Die Herausgeberinnen betonen im Vorwort, dass das Buch keine Lösungen für die komplexen politischen und gesellschaftlichen Konflikte bieten will – vielmehr will es ein Forum schaffen, in dem das Sprechen, das Zuhören und das Aushalten von Ambiguität als demokratische Tugenden verteidigt werden4.

Die Texte bewegen sich entlang mehrerer thematischer Linien:

  • Antisemitismus und Rassismus: Viele Beiträge reflektieren die reale Erfahrung von Antisemitismus und Rassismus in Deutschland und die Versuchung, diese beiden Diskriminierungsformen gegeneinander auszuspielen. Die Autor:innen plädieren für eine klare Positionierung gegen beides und zeigen, dass Trauer um die Opfer des 7. Oktober und um die Opfer in Gaza vereinbar sein können, wenn Humanität der kleinste gemeinsame Nenner bleibt24.
  • Polarisierung und Sprachlosigkeit: Der Band analysiert die Mechanismen, die zu einer Verhärtung der Debatte führen – von der Angst, etwas Falsches zu sagen, bis hin zur Vermeidung von Gesprächen. Die Beiträge machen deutlich, dass das Schweigen letztlich den Hardlinern und Rechtspopulisten in die Hände spielt und die liberale Gesprächskultur gefährdet13.
  • Ambiguitätstoleranz und Empathie: Immer wieder wird betont, wie wichtig es ist, Ambivalenzen auszuhalten und sich auf das Verstehen des Anderen einzulassen. Lena Gorelik schreibt in ihrem Beitrag „Kontaktanzeige“: „Wir sprechen, schreiben, halten inne, umarmen uns, halten aus. Lassen Ambivalenzen stehen, versuchen uns am Verstehen, man könnte sagen, wir lernen mit- und voneinander. […] Das Gegenteil von Schweigen muss vielleicht nicht Sprechen sein, es kann auch Zuhören heißen.“4
  • Autobiografische Reflexionen: Viele Texte sind persönlich gefärbt, schlagen Brücken zwischen den Ereignissen im Nahen Osten und den Erfahrungen in Deutschland. Sie zeigen, wie globale Konflikte das individuelle Leben und das gesellschaftliche Miteinander beeinflussen4.

Die Vielfalt der Stimmen – von Schriftsteller:innen, Künstler:innen, Journalist:innen, Menschen aus Kultur und Bildung – macht den Band zu einem vielschichtigen Spiegel der Gegenwart. Die Beiträge sind tastend, fragend, oft von Schmerz und Wut durchzogen, aber immer getragen von dem Willen, Verständigung nicht aufzugeben. Es ist ein Buch, das keine einfachen Antworten gibt, sondern Räume öffnet für Nachdenklichkeit, Zweifel und die Suche nach einer gemeinsamen Sprache.

Ein besonders eindrückliches Beispiel für den dialogischen Ansatz des Bandes ist das Gesprächsformat „Geschichte in Kostümen“, in dem vier Autor:innen unterschiedliche Perspektiven aufeinanderprallen lassen und dennoch im Austausch bleiben. Hier zeigt sich exemplarisch, wie Verständigung gelingen kann, wenn man bereit ist, zuzuhören und die eigene Position zu hinterfragen4.

„trotzdem sprechen“ zeigt, dass es möglich ist, Differenzen auszuhalten, Verletzungen zu benennen und trotzdem im Gespräch zu bleiben – und dass genau darin die Hoffnung auf eine bessere Zukunft liegt.

„trotzdem sprechen“ ist ein notwendiges, mutiges und vielstimmiges Buch. Es lädt dazu ein, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden, Ambiguitäten auszuhalten und sich auf das Wagnis des Dialogs einzulassen. Wer sich für die gesellschaftlichen Debatten der Gegenwart interessiert und nicht vor schwierigen Fragen zurückschreckt, findet in diesem Band eine inspirierende und herausfordernde Lektüre. Es ist ein Buch, das zum Nachdenken und zum Gespräch anregt – und das damit einen wichtigen Beitrag zur Verteidigung der Demokratie leistet.

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