Rabbinisches Wort für den Juni 2025

In Gesprächen höre ich oft den Vorwurf: „Die Religionen schüren Intoleranz und Hass, sie sind schuld an den Kriegen in der Welt! Ohne Religion wäre es friedlicher“. Natürlich weiß ich um den gefährlichen Anspruch auf die alleinige Wahrheit, der Religionen innewohnt, und um die in deren Namen geführten Kriege, Kreuzzüge und Verfolgungen – in der Geschichte und in der Gegenwart. Sind also Religionen zwangsläufig schlecht? Dem halte ich entgegen, dass die mörderischsten Ideologien des 20. Jahrhunderts, die das Leben von Hunderten von Millionen Menschen kosteten, säkularer Natur waren: Der Nationalsozialismus und der Stalinismus beriefen sich in ihrem Tun nicht auf Gott, ebensowenig der Maoismus oder Pol Pots Schreckensherrschaft.  

Doch ein für unseren Alltag viel relevanteres Argument fand ich in einem Interview mit dem US-amerikanischen Soziologen, Robert Putnam (in: Times of Israel, 25. 5. 2025). Er untersuchte die Zunahme von Extremismus und Polarisierung in den westlichen Gesellschaften während der letzten Jahrzehnte und fand heraus, dass die Ursachen dafür nicht so sehr in Religion oder Ideologie zu suchen sind, sondern in sozialer Isolation. Wir gehen weniger aus: Unterhaltungsangebote und die Kommunikation über elektronische Medien führen dazu, dass wir weniger Kontakte mit Menschen außerhalb des eigenen kulturellen oder politischen Horizonts haben. Wir ziehen uns in eigene Räume zurück, in die „Echokammern“, wo wir nur noch Meinungen hören, die uns bestätigen. Gelegenheiten wie Partys, Picknick, Bowling oder andere gesellige Anlässe, die wir gemeinsam mit Leuten aus ganz anderen Kontexten besuchen, werden immer weniger. Und zu der oben angeführten Auseinandersetzung meint Prof. Putnam, dass es keine Frage von religiöser oder säkularer Prägung ist: „Vielmehr geht es darum, bedeutsame Beziehungen über alle Unterschiede hinweg zu pflegen“. In seiner Forschung kam er sogar zum Ergebnis, dass Menschen, die religiös sind und zugleich in engem Kontakt mit Menschen anderer Religionen stehen, am tolerantesten sind. Nicht der Glaube ist das Problem, sondern die Art, wie wir aus ihm heraus unsere Beziehungen gestalten. 

Zu Schawuot feiern wir die göttliche Offenbarung, die Gabe der Torah, am Berg Sinai. Nach Rabbi Akiva ist der Vers, der die ganze Torah zusammenfasst, der folgende: „Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst, er/sie ist wie du!“. Es ist eine Botschaft, im Gegenüber nicht zunächst das Trennende wahrzunehmen, sondern die Gemeinsamkeit des Mensch-Seins. Das Buch Ruth, das wir wegen seines Themas von Chessed (Nächstenliebe) zu Schawuot lesen, zeigt uns, wie solche Beziehungen gelingen können. Keiner der im Buch Ruth beschriebenen Charaktere ist ein Superheld, es finden keine Wunder statt, auch keine Revolution. Aber die Menschen achten aufeinander, sie tun die kleinen Liebestaten und Aufmerksamkeiten, die einzelne Lebensläufe und eine Gesellschaft im Ganzen zum Positiven wenden können. Einsamkeit und soziale Isolation sind kein Schicksal – es liegt in unserer Hand, sie abzuwenden. Möge das Motiv von Chessed auch uns leiten, auf andere achtzugeben, uns um ihr Wohlergehen zu kümmern und Verantwortung füreinander zu übernehmen.

Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg