Brief aus Jerusalem Nr. 20

Autorin:
Dr. Deborah Weissman

Wie im letzten Brief erwähnt, fanden in diesem Monat die nationalen Gedenk- und Festtage statt, die nächste Woche mit dem Jerusalemer Tag abgeschlossen werden. Dieser wird 58 Jahre nach dem Sechstagekrieg und der „Wiedervereinigung“ Jerusalems begangen. (Ich habe diesen Begriff in Anführungszeichen gesetzt, weil die Stadt noch lange nicht wiedervereinigt ist). Anschließend feiern die Juden das Schawuot-Fest und die Christen das Pfingstfest der göttlichen Offenbarung. In Jerusalem gehen Tausende von Juden an Schawuot zur Klagemauer und wir beten inständig, dass es eine friedliche Zeit für alle sein wird.

Doch vor einem Monat haben sich einige Überlebende des Massakers vom 7. Oktober 2023, die unter schlimmsten Bedingungen gefangen gehalten und dann freigelassen wurden, dem Marsch der Lebenden in Polen angeschlossen. Eine Überlebende des Holocaust, die am Marsch teilnahm, verlor ihren Enkel im Krieg in Gaza am Holocaust-Gedenktag.

Eines der wichtigsten Ereignisse in dieser Zeit war der Tod und die Beerdigung von Papst Franziskus. Sein Nachfolger wurde in einem kurzen Konklave der Kardinäle gewählt. Er ist Papst Leo XIV. Er ist der erste amerikanische Papst und sogar der erste aus der englischsprachigen Welt. Papst Leo ist jedoch kein typischer Amerikaner, denn er war viele Jahre lang Bischof in Peru und spricht fließend Spanisch und Italienisch.  Seine ersten Kontakte mit der jüdischen Gemeinde waren vielversprechend.

Leider reagierte die israelische Regierung zunächst völlig falsch auf diese Entwicklung. Sie nahm dem verstorbenen Papst seine Kritik an Israels Verhalten während des gegenwärtigen Krieges übel. Bei der Beerdigung wurde Israel durch den israelischen Botschafter im Vatikan vertreten und nicht durch einen hochrangigen Diplomaten. Aus vielen Ländern kamen hingegen deren Staatschefs. Diese Lücke wurde teilweise von Präsident Herzog geschlossen, der zwar nicht an der Beerdigung teilnahm, aber den Katholiken in aller Welt herzliche und aufrichtige Beileidsbekundungen aussprach.

Die Geschichte von Ronen Bar, dem von Netanjahu entlassenen Direktor der israelischen Sicherheitsbehörde, über die wir bereits in der Vergangenheit berichtet haben, hat sich fortgesetzt. Premierminister Netanjahu macht ihn für die Tragödie vom 7. Oktober verantwortlich, unter anderem dafür, dass er den Premierminister nicht geweckt hat. Aber die Regierung hat die Entlassung von Bar rückgängig gemacht, insbesondere nachdem dieser seinen Rücktritt zum 15. Juni eingereicht hatte. Zudem hat der Oberste Gerichtshof die Entlassung für rechtswidrig erklärt, da man niemanden entlassen kann, während gegen ihn ermittelt wird.

In der Zwischenzeit geht der Krieg weiter, mit gefallenen israelischen Soldaten und großen Verlusten auf beiden Seiten. Er hat sich zum längsten Krieg in der Geschichte Israels entwickelt und wird von einigen in Israel als „ewiger Krieg” bezeichnet. Gleichzeitig häufen sich die Terroranschläge im Westjordanland. Bei einem der brutalsten Vorfälle wurde eine schwangere jüdische Mutter von vier Kindern auf dem Weg ins Krankenhaus zur Entbindung erschossen.

Derzeit werden im Gazastreifen 58 Geiseln festgehalten, von denen vermutlich 20 noch am Leben sind. Präsident Trump handelte die Freilassung eines amerikanisch-israelischen Staatsbürgers aus, eines jungen Mannes namens Edan Alexander. Trump scheint seinen einstigen engen Freund und Verbündeten Netanjahu zu brüskieren, da er Israel auf seiner jüngsten Reise in den Nahen Osten überhaupt nicht besucht hat. Zwischen der israelischen Regierung und der Führung der IDF scheint sich eine gravierende Meinungsverschiedenheit entwickelt zu haben. Der Oberbefehlshaber der Armee hat erklärt, dass das Hauptziel des Krieges die Rückkehr aller Geiseln ist, während der Premierminister die Auffassung vertritt, dass es im Krieg darum geht, die Hamas zu besiegen, wobei die Freilassung der Geiseln ein willkommener Nebeneffekt ist.

Die Hamas bot sogar an, alle Geiseln im Gegenzug für einen fünfjährigen Waffenstillstand freizulassen, doch Israel lehnte dieses Angebot ab. Mitte Mai veröffentlichte die Regierung einen neuen Plan für den Gazastreifen, in dem die Armee große Gebiete erobern und besetzen sollte, insbesondere im Norden des Gaza-Streifens. Viele Rechte wünschen sich eine Rückkehr der jüdischen Siedlungen in Gaza. Reservisten werden zu ihrem vierten oder fünften Einsatz in diesem Krieg einberufen. Dessen Ende ist nicht nur unklar, sondern auch zunehmend umstritten. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben ein israelisches Ersuchen um die Finanzierung von Hilfsplänen für den Gazastreifen abgelehnt, da sie der Meinung sind, dass das den Bedürfnissen der Menschen im Gazastreifen nicht gerecht wird.

Unterdessen sind die Huthi im Jemen immer aggressiver geworden. Trump hat mit ihnen ein Abkommen ausgehandelt, damit sie den amerikanischen Schiffsverkehr in der Region nicht mehr gefährden. Dennoch schicken sie weiterhin Raketen in alle Teile Israels. (Während ich dies schreibe, heulen im Großraum Jerusalem die Sirenen.)

Ungewöhnlich ist, dass eine ihrer Raketen in der Nähe des Ben-Gurion-Flughafens einschlug. Als Vergeltung zerstörte die israelische Luftwaffe einen Teil des Flughafens der Huthis. Aufgrund der wachsenden Spannungen wurden Flüge ausländischer Fluggesellschaften von und nach Israel gestrichen oder verschoben.

Eine der schmerzlichen Geschichten dieser Zeit ereignete sich am Abend unseres Gedenktages für gefallene Soldaten und Opfer des Terrors. Seit 20 Jahren treffen sich die Mitglieder des „Bereaved Families‘ Circle” – Israelis und Palästinenser, die Angehörige im Konflikt verloren haben – um gemeinsam zu trauern, zu singen und für den Frieden zu beten. Die Zeremonie wird auf sowohl auf Hebräisch als auch auf Arabisch abgehalten und ins Englische übersetzt. Tausende von Menschen verfolgen sie auch in anderen Ländern. Ich habe persönlich an dieser Veranstaltung teilgenommen, in letzter Zeit habe ich sie jedoch auf Zoom verfolgt. Ich schaue sie mir zu Hause an, aber an vielen Orten im ganzen Land wird sie auf großen Bildschirmen übertragen. In diesem Jahr wurde sie auch in der Reformsynagoge in Ra’anana gezeigt, einer Stadt nördlich von Tel Aviv. Schläger der örtlichen Likud-Partei kamen, um die Vorführung zu stören, und verletzten einige der Zuschauer so schwer, dass sie ärztliche Hilfe benötigten.

Traditionell beenden Juden ihre Bibellese mit einer positiven Note. Dieser Text ist natürlich kein traditioneller Text, aber ich möchte ebenfalls mit einer positiven Note schließen und dabei auf zwei Dinge eingehen, die hier im letzten Monat geschehen sind. Erstens wurde am Unabhängigkeitstag der Israel-Preis an zehn Personen verliehen, darunter fünf Frauen. Das ist ein Novum, das hoffentlich ein positives Zeichen für die Zukunft setzt.

Zweitens fand in der vergangenen Woche in Basel, dem offiziellen Geburtsort der zionistischen Bewegung im Jahr 1897, die Eurovision statt. Israel belegte den zweiten Platz. Die Sängerin war Yuval Raphael, eine 24-jährige Überlebende des Nova-Festival-Massakers vom 7. Oktober. Ihr Lied „A New Day Will Rise” drückte Optimismus und Hoffnung für die Zukunft aus. Ich hoffe, dass tatsächlich bald ein neuer Tag anbricht, an dem Israel den Krieg beendet und in die Familie der Nationen zurückkehrt.

Die englische Version können Sie hier herunterladen

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