Rabbinisches Wort für den Februar 2025 / Schwat 5785

Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg

In den Bücherschränken von Synagogen finden sich häufig alte Gebetbücher aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Sie stammen aus dem Nachlass von Gemeindemitgliedern, kommen gelegentlich als Spenden von Menschen, die sie auf dem Flohmarkt oder in Antiquariaten erstanden haben, äußerst selten haben sie in den Synagogen selbst „überlebt“. Auf den Seiten nach der Torahlesung findet sich dort stets ein „Gebet für den Landesvater“ – je nach Druckort und –zeit des Siddurs für „den deutschen Kaiser Wilhelm den Zweiten“ und „unsere erhabene Kaiserin und Königin Augusta Victoria“ oder für den „Kaiser Franz Josef dem Ersten (…), die Kaiserin Elisabeth Amalie Eugenie und alle Angehörigen des erhabenen, glorreichen Fürstenstammes“.

Es sind Texte, die die Herrschenden der Loyalität und des Patriotismus ihrer jüdischen Untertanen versichern sollen; gleichzeitig künden sie von einer tiefen Angst und Abhängigkeit von deren Wohlwollen. Bis ins 12. Jahrhundert reicht die Institution der Kammerknechtschaft zurück: Die Juden zahlten dem König oder Kaiser Tribut, dafür hatte der die Schutzgewalt über sie inne – damit lokale Fürsten, Stadtregierungen und der Mob nicht straflos über sie herfallen. Wie der amerikanische Historiker Jonathan Sarna berichtet, gab es sogar in russischen Siddurim ein Gebet für den Zaren Nikolaus II., obwohl dessen Politik Millionen Juden zur Auswanderung getrieben hatte und Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Pogrome und Ritualmordprozesse stattfanden. Allerdings stand auf derselben Seite eine mikroskopisch kleine Anmerkung auf Hebräisch, man habe ja auch für Nebukadnezar gebetet – was klarstellte, wie man den russischen Zaren sah (Nebukadnezar war im 6. Jahrhundert v.d.Z. Urheber der Zerstörung Jerusalems und des Babylonischen Exils).

Ich besitze ein Gebetbuch, das 1949 in München für die in den DP-Camps lebenden Juden herausgegeben wurde. Dort fehlt jegliches „Gebet für den Landesherrn“ – das überrascht nicht, nachdem die Überlebenden der Schoah erfahren hatten, wie es gerade die staatlichen Instanzen waren, die den Massenmord intendierten und betrieben. Und auch bis heute ist es, im Unterschied zu den USA oder Großbritannien, in fast allen Synagogen Deutschlands nicht üblich, ein Gebet für die Regierung zu sprechen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Ein solches Gebet könnte als parteipolitische Stellungnahme missverstanden werden, zugleich ist das Vertrauen von Jüdinnen und Juden in das Schutzversprechen des Staates durchaus brüchig. Zudem weisen an die 90 Prozent unserer Gemeindemitglieder einen Migrationshintergrund auf. Einen optimistischen Patriotismus, wie er unter deutschen Juden vor dem Ersten Weltkrieg herrschte, gibt es nicht mehr.

Gleichwohl ist die kommende Bundestagswahl auch für die jüdischen Gemeinden in Deutschland von großer Bedeutung, sind wir doch weiterhin auf den Schutz durch Staat und Gesellschaft angewiesen. Inzwischen haben auch die meisten der in den letzten 30 Jahren Zugewanderten die deutsche Staatsbürgerschaft und sind damit wahlberechtigt. Es ist darum wichtig, dass wir uns nicht als machtlose Untertanen, sondern als verantwortliche Bürger und Bürgerinnen verstehen, die mit ihrer Wahlstimme gestaltend Einfluss nehmen auf die Geschicke dieses Landes. Möge uns dabei ein Geist der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Respekts leiten. Mögen unsere Wahlentscheidungen dazu beitragen, dass Frieden und Sicherheit, Würde und Wohlstand aller gewahrt bleiben. Mögen die Gewählten die demokratischen Institutionen und den Schutz der Umwelt stärken, damit wir und unsere Kinder eine lebenswerte Welt bewohnen. Und vielleicht ist das dann doch so etwas wie ein „Gebet für das Wohl dieses Landes“…

Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg