Rabbinisches Wort für den November 2024 / Cheschwan 5785

Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg
Die Erzählung von der Überflutung der Erde und dem Überleben auf der Arche ist eine der bekanntesten der Bibel, aber sie verträgt sich überhaupt nicht mit unserem wissenschaftlichen Verständnis der Entstehung von Erde und Menschheit. Populär sind allein die bunten Kinderbücher von einem großen Holzschiff, auf dem alle Tiere und Menschen miteinander auskommen. Ein bärtiger, freundlich dreinblickender Noach als eine Art Dr. Dolittle (bzw. im russischen Sprachraum: Dr. Aibolit) winkt uns von der Reling zu, darüber ein Regenbogen. Nichts was uns wirklich herausfordert. Am Anfang des 20. Jahrhunderts erhitzte die Sintflutgeschichte noch einmal die Gemüter von Altorientalisten und Theologen, als es im „Babel-Bibel-Streit“ darum ging, dass babylonische Mythen von einer Urflut wie das Gilgamesch-Epos schon viel älter seien und die biblische Erzählung nur „abgekupfert“ sei. Aber ich meine, dass es gar nicht darauf ankommt, welcher Text als Original zu gelten habe. Die Wanderungen von Erzählmotiven finden wir überall in der Weltliteratur, und zwar immer dann, wenn diese Mythen Fragen behandeln, die existentielle Fragen und Nöte von Menschen ansprechen. Die Antworten, die dann gegeben werden, sind das wahre Original.
Die jüdische Tradition nahm die Person Noach u.a. zum Ausgangspunkt, um zu erörtern, wie ein Mensch mit Katastrophen und traumatischen Erfahrungen umgeht. Der Midrasch Lekach Tov, der um 1100 u.Z. verfasst wurde, beschreibt Noach als einen Mann, der drei Welten erlebte, also drei sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen verarbeiten musste: a) die Welt, in der er aufgewachsen war, b) die Zerstörung der gesamten Welt durch die Flut, und c) den Neuaufbau der Welt. Der Midrasch spielte damit auf die Frage an, die sich die Zeitgenossen nach dem schrecklichen Erleben des Ersten Kreuzzugs stellten: Wie kann es weitergehen nach der Zerstörung vieler jüdischer Gemeinden im Rheinland und der Massakrierung von wehrlosen Männern, Frauen und Kindern?
Die Torah erzählt, dass nach mehr als einem Jahr die Flut endete und die Erde trocknete. Noach bemerkte das – aber er verließ die Arche nicht. Wie konnte er darauf vertrauen, dass die Welt nicht nochmals zerstört werden würde? Es bedurfte erst einer weiteren Anweisung Gottes: „Geh aus der Arche, du und deine Frau und deine Söhne und die Frauen deiner Söhne mit dir!“ (1.Mose 8,16). Bleib nicht im Überlebensmodus, sondern geh hinaus, bau dir selbst und anderen eine neue Welt auf.
Für den Schabbat Noach, an dem wir die Fluterzählung lesen, verfasste Jannai (lebte im 5./6. Jahrhundert in Eretz Israel) folgendes Gedicht. Es beruht auf dem Vers „Geh aus der Arche“ und ermutigt zum Aufbruch. Über 22 Verse hinweg, dem hebräischen Alphabet folgend, werden Dinge benannt, die wir hinter uns lassen sollen, damit wir uns der Zukunft zuwenden können:
Und also: “Geh aus der Arche”: | „וּבְכֵן: „צֵא מִן הַתֵּבָה |
Geh aus dem Gefesseltsein, um gelöst zu werden, Geh aus dem Schrecken, um Ruhe zu finden, Geh aus der Einengung, um Fülle zu spüren, Geh aus der Zurückweisung, um freudig zu jubeln, Geh aus der Vergangenheit, hin zur Gegenwart, Geh aus dem Zürnen, zum Strecken und Aufrechtstehen, Geh aus der Dunkelheit hin zum Licht, Geh aus dem Erschüttertsein zum Vertrauen in Sicherheit, Geh aus der Erschöpfung, um ausruhen zu können, Geh aus dem Gefangensein hin zur Freiheit, Geh aus dem Bedrücktsein, um frohgemut zu werden, Geh aus dem Totsein, um Belebung zu erfahren, Geh aus dem Klagelied, hin zum leuchtenden Strahlen, Geh aus dem Eingeschlossensein, hinaus ins Offene, Geh aus dem Abmühen, hin zum Aufatmen, Geh aus dem Drinnen nach Draußen, Geh aus der Enge in die Weite, Geh aus dem Fluch hin zum Segen, Geh aus dem Geärgertsein hin zum eigenen Wollen, Geh aus dem am-Boden-zerstört-Sein zur Gelassenheit, Geh heraus aus der Arche zur Lust am Leben. | צֵא מֵאֲסִירָה לְהַתָּרָה צֵא מִבַּלָּהָה לְהַנָּחָה צֵא מִגְּדִירָה לִגְדִישָׁ צֵא מִדְּחִיקָה לְדִיצָה צֵא מֵהַוָּה לַהֲוָיָה צֵא מִזְּעִימָה לִזְקִיפָה צֵא מֵחֲשֵׁכָה לְאוֹרָה צֵא מִטַּלְטֵלָה לְהַבְטָחָה צֵא מִיגִיעָה לִרְגִיעָה צֵא מִכְּלִיאָה לִדְרָרָה צֵא מִלְּחִיצָה לְעֶלֶצְיָה צֵא מִמָּוְתָא לִתְחִיָּה צֵא מִנְּהִיָּה לִנְהוֹרָה צֵא מִסְּגִירָה לִפְתִיחָה צֵא מֵעֲמִילָה לִנְפִישָׁה צֵא מִפְּנִימָה לְחוּצָה צֵא מִצָּרָה לִרְוָחָה צֵא מִקְּלָלָה לִבְרָכָה צֵא מֵרְגִיזָה לִרְצִיָּה צֵא מִשַּׁמָּה לִשְׁלֵוָה צֵא מִתֵּבָה לִתְאִבָה |
Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg