Rabbinisches Wort für den Oktober 2024 / Tischrej 5785
Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg
„Alles hat seine bestimmte Zeit, jegliche Angelegenheit unter dem Himmel hat ihre Zeit: Eine Zeit hat das Weinen und eine Zeit hat das Lachen, eine Zeit hat das Klagen und eine Zeit hat das Tanzen, (…) eine Zeit hat das Lieben und eine Zeit das Hassen, eine Zeit ist des Krieges und eine Zeit des Friedens…“ (Koh 3,1-8). Der Autor dieser Worte aus dem biblischen Buch Kohelet (Prediger Salomo) war der Ansicht, dass fröhliche und traurige Zeiten ihre Berechtigung in unserem Leben haben, eben alles zu seiner Zeit. Wir lesen diese Verse und überhaupt das ganze Buch als Megillah, als besondere Festtagslesung zu Sukkot, wenn wir in den fragilen Laubhütten sitzen und die Ernte des vergangenen Jahres feiern. Dann schauen wir zurück und wissen, dass es gute und schwere Zeiten gab, und freuen uns über das, was gelungen ist.
Die Hohen Feiertage verlangen uns eine ernste Prüfung ab: Wir sollen uns selbstkritisch betrachten und ehrliche Rechenschaft ablegen. In diesem Jahr aber sind diese Wochen eine außerordentlich schwierige Zeit. Von Rosch Haschanah über Jom Kippur und Sukkot bis zu Simchat Torah durchlaufen wir eine emotionale Achterbahnfahrt: Auf die Süße von Apfel und Honig zu Rosch Haschanah folgt der erste Jahrestag des 7. Oktober 2023, an dem die Hamas nahezu 1.200 Zivilisten im Süden Israels massakrierte. Unser Entsetzen und unsere Trauer sind noch frisch, auch angesichts dessen, was danach kam: Krieg, gefallene Soldaten, Opfer unter Zivilbevölkerung, das furchtbare Leid der Geiseln, die Heimatlosigkeit der Evakuierten. Wie können wir da in den Jom Kippur eintreten, wie zur Ruhe kommen? Wie zu Sukkot der Freude Raum geben, wie zu Simchat Torah tanzen?
Der israelische Dichter Jehuda Amichai (Würzburg 1924 – Jerusalem 2000) widersprach dem Prediger Salomo, der meinte, alles hätte seine Zeit. Im Gedicht „Ein Mensch in seinem Leben“ hielt er dagegen:
Ein Mensch muss hassen und lieben im selben Augenblick,
mit denselben Augen weinen und mit eben diesen Augen lachen,
mit denselben Händen Steine werfen
und mit eben diesen Händen sie einsammeln,
Liebe machen im Krieg und Krieg in der Liebe.
Und hassen und verzeihen und erinnern und vergessen
und Ordnung schaffen und durcheinanderbringen und essen und verdauen
was eine lange Geschichte in sehr vielen Jahren tut.
Trotz unserer Sorgen werden wir die Feste feiern, und inmitten unserer Feiertage werden wir gedenken und trauern. Es wird nicht einfach sein, aber wir sind nicht allein – wir teilen Kummer und Freude mit Juden und Jüdinnen weltweit. Mögen die Flüche des vergangenen Jahres enden und das Neue Jahr 5785 viel Segen, Heilung, Trost, Freiheit, Heimkehr und Frieden bringen. Ihnen, Ihren Familien und Nächsten wünsche ich ein gutes Jahr, Gesundheit und Freude. Schanah towah
Ihre/Eure Ulrike Offenberg