Brief aus Jerusalem Nr. 12

Autorin:
Deborah Weissman

Die aus gesellschaftlicher Sicht wohl wichtigste Entwicklung des vergangenen Monats war die Ermordung der sechs Geiseln am 31. August. Wenige Tage zuvor war es der IDF gelungen, einen israelischen Beduinen zu befreien, der aus einem Tunnel geflohen war. Es war die vierte Geiselbefreiung in den letzten elf Monaten.

Ich hatte eigentlich gehofft, dass wenigstens Hersh Goldberg-Polin aufgrund der massiven Kampagne, die seine Familie im letzten Jahr gestartet hatte, verschont bleiben würde.  Seine Eltern hatten versucht, durch Besuche bei den Vereinten Nationen, im Weißen Haus und im Vatikan weltweite Unterstützung zu gewinnen. Sie sind meine Nachbarn, und obwohl ich sie nicht persönlich kenne, haben wir viele gemeinsame Freunde. Doch am Ende wurde er zusammen mit fünf anderen Geiseln von der Hamas ermordet.

Der 1. September war vielleicht der traurigste Tag in Israel seit dem 7. Oktober. Es war der Tag der Beerdigungen. Viele Menschen auf der ganzen Welt verfolgten zumindest die Beerdigung von Hersh.  Wie Jon Polin in seiner Trauerrede für seinen Sohn sagte: „In einem Wettbewerb des Schmerzes gibt es keine Gewinner“.

Noch immer werden 101 Geiseln im Gazastreifen vermutet, obwohl befürchtet wird, dass bis zu 36 von ihnen tot sind. Der israelischen Öffentlichkeit ist inzwischen klar geworden, dass die Befreiung der Geiseln nicht das vorrangige Ziel der Regierung in diesem Krieg ist. Zwischen dem Kriegskabinett der Regierung und dem Verteidigungsapparat, einschließlich des Verteidigungsministers, sind in dieser Frage Meinungsverschiedenheiten deutlich geworden.  Netanyahu versucht, Minister Yoav Gallant zu entlassen. Den Verteidigungsminister während eines Krieges zu entlassen und durch jemanden zu ersetzen, der weit weniger Erfahrung hat, ist ein heikles Unterfangen. Der Premierminister hat es schon einmal im März 2023während der Justizkrise versucht und stieß auf breiten Widerstand in der Bevölkerung. Dasselbe passiert jetzt

Von Zeit zu Zeit wird die Möglichkeit eines weiteren „Geisel-gegen-Gefangenen“-Tausches erwähnt, aber bisher es ist nicht dazu gekommen. Die Medien beschuldigen mal die eine, mal die andere Seite, manchmal auch beide. Eine Zeit lang bestand Netanjahu darauf, dass Israel den Philadelphi-Korridor, der eine wichtige Nachschubroute für die Hamas ist, aufrechterhält, aber viele hochrangige Militärs sind der Meinung, dass dies für die Sicherheit Israels nicht unbedingt notwendig sei. Es scheint sich eine nationale Debatte darüber zu entwickeln, ob wir alles tun sollten, um die verbleibenden Geiseln zu befreien, oder ob wir uns darauf konzentrieren sollten, einen weiteren Anschlag wie den vom 7. Oktober zu verhindern.

Einige israelische Juden der extremen Rechten haben begonnen, die Familien der Geiseln als ihren inneren Feind zu betrachten. Die Familien, die ihre Angehörigen zurückhaben wollen, rufen zu einem Waffenstillstand auf, um den Austausch von Geiseln und Gefangenen zu erleichtern. Die Polizei, die vom extremistischen Minister Itamar Ben-Gvir kontrolliert wird, hat gelegentlich Demonstranten angegriffen, die für den Frieden eintraten, und sogar einige Mitglieder von Geiselfamilien.   Manche sehen in diesen Tendenzen eine Erosion von Solidarität und gegenseitiger Verantwortung in der israelischen Gesellschaft.  Netanjahu hat sich zu diesen Fragen relativ ruhig verhalten, ebenso wie zu der Gewalt der Siedler gegen die Palästinenser im Westjordanland, die gefährliche Ausmaße angenommen hat.

Es mag überraschen, dass Netanyahu in den Meinungsumfragen immer noch gut abschneidet. Eine Mehrheit der Israelis macht ihn zwar für die mangelnde Vorbereitung auf den 7. Oktober und die schlechte Kriegsführung verantwortlich, unterstützt ihn aber dennoch als Premierminister. Er hat keine persönliche Verantwortung für das Ereignis übernommen, sondern die IDF und die Chefs der anderen Sicherheits- und Geheimdienste verantwortlich gemacht.

Ein Fernsehkommentator formulierte: „Wer die Zeremonie gestaltet, deutet auch die Ereignisse.”  Auch wenn die Kämpfe vorbei sein werden, wird es innerhalb Israels noch jahrelang, vielleicht sogar über Generationen hinweg, unterschiedliche Ansichten über über die Deutung der Geschichte geben. Und von der Nordgrenze haben wir in diesem Brief noch gar nicht gesprochen. Seit Monaten herrscht dort ein Krieg niedriger Intensität zwischen der Hisbollah und Israel, in dem Zehntausende Israelis nicht in ihre Häuser zurückkehren können. Ihre Rückkehr wurde zu einem der offiziell erklärten Ziele des aktuellen Krieges. Mitte September gab es einen koordinierten Sprengstoffanschlag auf Pager der Hisbollah im Libanon, bei dem neun Menschen, darunter ein Kind, getötet und fast 3.000 verletzt wurden. In Israel ist man stolz auf diese technische Errungenschaft, fürchtet aber gleichzeitig Vergeltung.

Inzwischen sterben jede Woche mehrere israelische Soldaten und viele Menschen aus dem Gazastreifen im Süden des Landes. Am 18. September wurde bekannt, dass die erste israelische Soldatin, eine Sanitäterin, im Gazastreifen getötet wurde.

Zusätzlich zu den anhaltenden Kämpfen mit iranischen Stellvertretern in der Region gibt es Drohungen mit einem weiteren Angriff aus dem Iran selbst. (Sie erinnern sich vielleicht an die Nacht vom 13. auf den 14. April, als der Angriff nicht nur von den üblichen Verbündeten Israels, sondern auch von Jordanien und Saudi-Arabien mit Hilfe von Iron Dome und anderen Verteidigungsmechanismen abgewehrt wurde). Ein weiterer Angriff wurde für den 25. August erwartet, fand aber nicht statt.

Wir warten immer noch auf einen direkten iranischen Angriff, aber die Hisbollah im Norden hat nicht aufgehört. Ihr Beschuss geht weiter, bis in den Süden des Jezre’el-Tals, mit Drohungen gegen weitere Ziele in Zentralisrael. Auch die Gegenangriffe der israelischen Luftwaffe im Libanon sind eskaliert.

Netanyahu hat – bisher erfolglos – versucht, Verteidigungsminister Yoav Gallant abzulösen. Die beiden sind sich in mehreren Schlüsselfragen uneinig, darunter die Priorität, die der Freilassung von Geiseln eingeräumt wird, das Fehlen eines Plans für den Tag danach“ sowohl gegen die Hamas als auch gegen die Hisbollah und die Einberufung der Ultraorthodoxen. Die Israelis bereiten sich auf die Hohen Feiertage Anfang Oktober vor. Es ist gut möglich, dass unsere Feinde diesen Zeitpunkt für einen neuen Angriff wählen. Vor 51 Jahren wurden wir an Jom Kippur angegriffen und letztes Jahr an Simchat Tora. Zweifellos werden die Sicherheitsvorkehrungen in den Synagogen auf der ganzen Welt verstärkt werden.

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