Rabbinisches Wort für den November 2025

Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg
Was bedeutet es, Abrahams Kinder zu sein? Aus der biblischen Erzählung über Abraham geht nicht hervor, warum Gott ausgerechnet ihn erwählte, ihn zum Aufbruch aus seiner Heimat aufforderte und ihn zum Segen aller Generationen der Erde machen wollte. Doch ganz klar wird gesagt, worin Abrahams Mission besteht, was also der Zweck dieses Aufbruchs sein soll. In 1.Mose/Genesis 18,18-19 heißt es:
„Abraham wird zu einem großen und mächtigen Volk werden, und in ihm werden alle Völker der Erde gesegnet sein. Denn ihn habe ich ersehen, dass er seinen Kindern und seinem Haus gebiete, den Weg Gottes einzuhalten, nämlich Gerechtigkeit und Recht zu tun.“
Abrahams Auftrag ist es, die Werte von Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen auf der Erde. Und das tut Abraham bereits kurz darauf, und zwar sogar in einer Diskussion mit Gott, als dieser die komplette Zerstörung der Stadt Sodom ankündigt:
„Willst du den Gerechten mit dem Übeltäter zusammen vernichten? (…) Fern sei das von dir! Der Richter der ganzen Erde sollte nicht Gerechtigkeit üben?!“ (1.Mose 18,23.25)
Abraham fordert ein, dass niemand über dem Recht steht, selbst Gott nicht. Was ihn also auszeichnet, ist sein unbedingtes Streiten für Recht und Gerechtigkeit. Er hält es nicht für nachrangig, dass da vielleicht Unschuldige umkommen könnten. Abraham ist – zumindest in Bezug auf Sodom – der Urtyp eines Menschen, der sich einmischt, selbst wenn das Mut und Überwindung verlangt. Wenn Recht und Gerechtigkeit verletzt werden, wird Gleichgültigkeit zur Mitschuld. Und wir Abrahamskinder? Die Torah, die Gottes Wort an uns ist, übermittelt auch uns diesen Auftrag, sich anrühren zu lassen, wenn Unrecht geschieht, nicht wegzuschauen oder den Kopf einzuziehen. In diesem Sinn sollen wir streiten. Um des Rechts und der Gerechtigkeit willen fordert uns unsere Heilige Schrift sogar zur Chuzpe gegenüber Gott auf – denn daran wird erkennbar, ob wir uns die Torah wirklich zu Herzen nehmen.
Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg