Rabbinisches Wort für den Oktober 2025

Im talmudischen Traktat Rosch haSchana 16b heißt es, dass am großen Neujahrsfest Rosch haSchana drei Bücher vor G’tt geöffnet werden, in die alle Menschen eingeschrieben werden: ein Buch für die offensichtlich schauerlich Schlechten, ein Buch für die glasklar Gerechten und ein Buch für die moralisch mediokre Mehrheit der Menschheit. Die Vorstellung von einem Buch des Lebens, einem Buch des Todes und einem Buch der Mittelmäßigen aus der mündlich tradierten Lehre basiert u.a. auf Schemot (Exodus) 32,32: „Und nun denn, dass Du nur ihre Verfehlung vergebest! Doch falls nicht, so lösche mich doch aus Deinem Buch, das Du geschrieben hast [, sodass ich sterbe]“ und Tehilim (Psalmen) 69,29: „Mögen sie gelöscht werden aus dem Buch des Lebens und nicht eingeschrieben werden mit den Gerechten!“
Der Fokus in den G’ttesdiensten von Rosch haSchana und Jom Kippur, dem Versöhnungstag, liegt klar auf dem Buch des Lebens, in das wir alle eingeschrieben für ein weiteres gutes Jahr eingeschrieben werden möchten. Wenn man sich an Rosch haSchana „Schana tova“, also „ein gutes Jahr“ wünscht, ist das lediglich die Kurzfassung von „LeSchana tova tikatevu!“ („Für ein gutes Jahr mögt ihr eingeschrieben werden!“). Eine andere Kurzfassung ist „Ktiva tova“, also ein „eine gute Eintragung“. Die Begrüßungen an den Hohen Feiertagen greifen das Bemühen um und die Hoffnung auf ein Eingeschriebenwerden in das Buch des Lebens immer wieder auf. Das Bild dieses und der anderen beiden Bücher, die G’tt vor sich hat, machen wiederum das komplexe Unterfangen der jüdischen Saison aus Reflexion, Reue, Um-Vergebung-Bitten, Wiedergutmachung, Vergeben und Vergebenwerden zwischen Mensch und G’tt sowie Mensch und Mitmenschen greifbarer. Die drei Bücher sind zum eine Verortung für den Beginn der Hohen Feiertage – fast alle Menschen werden an Rosch haSchana zunächst ins Buch der Mittelmäßigen eingeschrieben – und ein Ziel für ihren Höhepunkt an Jom Kippur: bloß weg vom Buch des Todes und hinein ins Buch des Lebens.
Das Judentum lehrt zwar, dass wir aus Dankbarkeit G’tt gegenüber gut handeln sollen und entsprechend unser Denken, Sprechen und Handeln reflektieren und stetig gerechter und gütiger werden müssen. Zugleich ist das Judentum so pragmatisch, eine spezielle Saison der Reflexion und Vergebung mit dem ultimativen Motivator zur inneren Besserung zu haben: dem Erhalt des Lebens selbst. Denn, da nahezu alle von uns zu den moralisch Mittelmäßigen gehören und uns ständig von Alltag, Gewohnheit und Ängsten vor Reflexion und Wiedergutmachung drücken, braucht es Druck und Datum.
Doch mit der Eintragung in eines der Bücher an Rosch haSchana ist es nicht getan. Ab da an stehen einem zehn intensive Tage der Umkehr bevor, um seinen Namen bis Jom Kippur noch in ein anderes Buch umzutragen. Am Versöhnungstag wird das eigene Schicksal besiegelt, indem die Eintragung in eines der Bücher besiegelt wird – strikt anhand der Gesetze der Torah zur Umkehr und im Besonderen zum umfassenden Fasten und Kasteien an Jom Kippur. Entsprechend wünschen wir einander abseits von „Zom kal!“ („leichtes Fasten!“) vor allem „Gmar Chatima tova!“ („ein gutes abschließendes Besiegeln!“).
Viele nehmen an, dass die Hohen Feiertage an Jom Kippur enden. Doch das Judentum nimmt nicht etwa nur an, dass G’tt ein ausschließlich an Gesetzen orientiertes distanziertes Wesen wäre, das starr nach Regeln urteilen würde. G’tt ist zugleich ein persönlicher und barmherziger G’tt. Deshalb endet die Saison der Umkehr und Vergebung erst an Hoschana Raba, dem siebten Tag von Sukkot, dem Laubhüttenfest, elf Tage nach Jom Kippur. An jenem Tag geht darum, dass niemand besser als G’tt weiß, wie profund moralisch mittelmäßig wir sind und wie sehr wir in unserem Verhältnis zu G’tt und zu unseren Mitmenschen auf Verständnis, Milde, Nachsicht, nicht ganz verdienter Vergebung und zweite Chancen angewiesen sind. Wird im Bild der drei Bücher vor G’tt also das Siegel von Jom Kippur wieder gebrochen und der eigene Name an Hoschana Raba umgetragen? Keine Antwort darauf könnte prägnanter sein als der jiddische Gruß dieses Feiertags: „A gut Kvitl!“, also „einen guten Zettel!“. Wir wünschen einander, dass G’tt einen Zettel mit dem eigenen Namen zwischen die Seiten des versiegelten Buchs des Lebens schieben möge – in einem Bild das Prinzip von Gnade vor Recht, sogar mit einer Prise Humor.
Ihr/Euer Rabbiner Levi Israel Ufferfilge