Rabbinisches Wort für den September 2025

Zum Neujahrsfest praktizieren wir ein Ritual, das absolut merkwürdig ist, aber doch zu den Elementen der Hohen Feiertage gehört, die mir am liebsten sind. Es heißt „Wirf weg!“ (auf Hebräisch: Taschlich) – und bezieht sich auf die Sünden, die wir aufgeben sollen. Nach dem Morgengottesdienst von Rosch Haschanah gehen wir an ein fließendes Gewässer (zur Hamel haben wir es von der Synagoge aus nicht weit) und werfen symbolisch unsere Sünden hinein, damit die Wasser sie fortspülen und letztlich im Ozean versenken. Dabei rezitieren wir u.a. diesen Vers des Propheten Micha: „Möge sich Gott aufs Neue unserer erbarmen und unsere Missetaten bezwingen; ja, Du wirst in die Tiefen des Meeres all ihre Sünden fortschicken“ (Mi 7,19). Dieses Ritual ist ein Teil des Prozesses von Erneuerung in diesen Zehn Tagen der Umkehr, die zum Jom Kippur hinführen. Und oft verdeutlichen wir unsere Bitte auf handfeste Weise, indem wir zugleich ein paar Brotkrümel wegwerfen, die dann von den Fischen oder den Enten begierig aufgeschnappt werden.

Aber ist das nicht abergläubischer Unfug? Das Ritual geht nicht auf biblische oder talmudische Quellen zurück, die älteste Erwähnung dieses Brauchs findet sich beim Mainzer Rabbiner Jacob Halevi Mölin (1375-1427). Was haben die Fische damit zu schaffen? Mit ihren stets offenen Augen symbolisieren sie den Psalmvers „Siehe, es schläft und schlummert nicht der Hüter Israels“ (Ps 121,4). Die Idee, dass wir uns auf diese Weise unserer Sünden entledigen könnten, ist absurd und bezaubernd zugleich. Es verwundert nicht, dass dieses Ritual in manchen Gebetbüchern des so rational ausgerichteten Liberalen Judentums gestrichen wurde. Jedoch würde niemand behaupten, dass wir auf solch mechanische Weise die Belastung unserer Verfehlungen loswerden könnten – das Taschlich-Ritual ist Teil eines umfassenden Prozesses der Selbstprüfung, des Bekenntnisses von Sünden und des Willens zur Umkehr während der Hohen Feiertage.

Wir stehen da als Gemeinde am Flüsschen und lesen die Psalmverse (Ps 118,5-9), die uns Kraft geben, uns der kritischen Selbstbetrachtung zu stellen:

„Aus der Bedrängnis rief ich Gott, Er antwortete mir und gab mir Weite.

Der Ewige ist mit mir, ich fürchte nichts, was kann ein Mensch mir tun?

Der Ewige ist mit denen, die mir helfen, und ich blicke ruhig auf meine Hasser.“

Aber was meint dieses veraltete Wort „Sünde“ überhaupt? Wir können darunter Fehlverhalten im weitesten Sinne verstehen: Dinge, die wir gesagt oder getan haben, oder auch Situationen, wo wir es unterließen, etwas zu sagen oder zu tun, obwohl das angebracht gewesen wäre. Mitunter haben wir Erwartungen an uns enttäuscht oder nicht dem positiven Bild entsprochen, das wir gern selbst von uns haben. Manchmal fehlt uns der Mut oder die Geistesgegenwart, um sich anders zu verhalten, oft hält uns Bequemlichkeit zurück.

Es tut gut, Dinge loslassen und einen Neuanfang wagen zu können. Das Ritual des Taschlich kann Zuversicht geben, dass wir es dieses Jahr doch schaffen könnten, manches besser zu machen.

Ihre/Eure Rabbinerin Ulrike Offenberg