Das rabbinische Wort für den Mai

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Der Bund traditioneller Juden in Deutschland (BtJ) und das Rabbinerseminar zu Berlin bieten die »Weisheit der Tora von Rabbiner Lord Jonathan Sacks sel. A.

Schemini

Übersetzt von Rabbiner D. Kern

Denkanstöße über das Essen

Die zweite Hälfte des Buches Exodus und der erste Teil des Buches Levitikus bilden eine sorgfältig strukturierte Erzählung. Den Israeliten wird geboten, ein Heiligtum zu errichten. Sie führen den Auftrag aus. Es folgt ein Bericht über die Opfer, die dort dargebracht werden sollen. Dann, im ersten Teil der Parascha dieser Woche, werden die Kohanim – die Priester – in ihr Amt eingeführt.

Doch dann folgt etwas Unerwartetes: Die Speisegesetze werden vorgestellt, eine Liste der erlaubten und verbotenen Tier-, Fisch- und Vogelarten. Welchen Sinn haben diese Gesetze und warum werden sie in diesem Kontext genannt? In welchem Zusammenhang stehen sie mit dem Heiligtum?

Der verstorbene Rabbiner Elie Munk hat hierzu eine spannende Erklärung unterbreitet.[1] Wie wir bereits in vorausgegangenen Essays erwähnt haben, war das Heiligtum das menschliche Gegenstück zum Kosmos. Mehrere Schlüsselwörter in der biblischen Erzählung über den Bau des Heiligtums sind auch Schlüsselwörter im Schöpfungsbericht am Anfang der Genesis. Im Talmud (Megilla 10b) heißt es über die Vollendung des Heiligtums: „An jenem Tag herrschte Freude vor dem Heiligen, gepriesen sei Er, wie an dem Tag, als Himmel und Erde erschaffen wurden.“ Das Universum ist das Heim, das Gott für den Menschen geschaffen hat. Das Heiligtum ist das Haus, das der Mensch für Gott geschaffen hat.

Rabbi Munk erinnert uns daran, dass das erste Gebot, .das Gott dem ersten Menschen gab, ein Speisegebot war. „Du darfst von allen Bäumen des Gartens essen, nicht aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, denn wenn du davon isst, musst du sterben.“ Die Speisegesetze in Schemini sind eine Parallele zu dem Verbot an Adam. Wie dort wird auch hier eine neue Epoche in der spirituellen Geschichte der Menschheit, der ein Schöpfungsakt vorausgeht, durch Gesetze über das, was man essen darf und was nicht, markiert.

Und warum? So wie es sich mit dem Sex verhält, so ist es auch mit dem Essen: Es sind die ursprünglichsten Aktivitäten, die wir mit vielen anderen Lebensformen teilen. Ohne Sex gibt es kein Überleben der Spezies. Ohne Essen nicht einmal das Überleben des Individuums. Deshalb stehen diese Aktivitäten im Mittelpunkt sehr unterschiedlicher Kulturen. Auf der einen Seite gibt es hedonistische Kulturen, in denen Essen und Sex als ein Vergnügen angesehen werden, dem man sich hingibt. Auf der anderen Seite gibt es asketische Kulturen, die sich durch klösterliche Abgeschiedenheit auszeichnen, in denen Sex vermieden und die Nahrungsaufnahme auf ein Minimum beschränkt wird. Bei ersteren steht der Körper im Vordergrund, bei letzteren die Seele. Im Gegensatz dazu sieht das Judentum das Menschsein als eine Frage der Integration und des Gleichgewichts. Wir sind Leib und Seele. Daraus ergibt sich der jüdische Imperativ, der weder hedonistisch noch asketisch, sondern transformativ ist. Uns wird geboten, die Akte des Essens und der Sexualität zu heiligen – deshalb die Speisegesetze und die Gesetze der familiären Reinheit (Nidda und Mikwe), zwei Schlüsselelemente der Keduscha, eines Lebens in Heiligkeit.

Doch damit nicht genug. Genesis 1 ist nicht der einzige Schöpfungsbericht im Tanach, der hebräischen Bibel. Es gibt noch einige mehr. Einer davon findet sich in den letzten Kapiteln des Buches Hiob.

Hiob ist das Paradebeispiel eines gerechten Mannes, der leidet. Er verliert alles, was er hat, ohne ersichtlichen Grund. Seine Gefährten sagen ihm, er müsse gesündigt haben. Nur so könne sein Schicksal mit der Gerechtigkeit in Einklang gebracht werden. Hiob beteuert seine Unschuld und fordert eine Anhörung vor dem himmlischen Gericht. Etwa 37 Kapitel lang tobt der Streit, dann spricht Gott im 38. Kapitel „aus dem Wirbelwind“ zu Hiob. Doch Gottes Worte sind keine Antwort. Stattdessen stellt Er vier Kapitel lang eigene Fragen, rhetorische Fragen, auf die es keine Antwort gibt:

„Wo warst du, als ich das Fundament der Erde legte? … Bist du zu den Quellen des Meeres gewandert oder in den Abgründen der Tiefe gewandelt? … Hat der Regen einen Vater? … Aus wessen Schoß kommt das Eis?

Gott zeigt Hiob die ganze Bandbreite der Schöpfung, aber es ist ein ganz anderes Bild des Universums als in Genesis 1-2, wo der Mensch im Mittelpunkt der Erzählung steht: zuletzt erschaffen, im Ebenbild Gottes geschaffen, um über alles Lebendige zu herrschen. In Hiob 38-41 hingegen sehen wir kein anthropozentrisches, sondern ein theozentrisches Universum. Hiob ist der einzige Mensch im Tanach, der die Welt sozusagen aus der Perspektive Gottes sieht.

Besonders auffällig ist, wie in diesen Kapiteln die Tierwelt behandelt wird. Was Hiob sieht, sind keine Haustiere, sondern wilde, unzähmbare Geschöpfe, herrlich in ihrer Kraft und Schönheit, fern vom Menschen und ihm gegenüber völlig gleichgültig:

„Gibst du dem Pferd seine Kraft oder kleidest du seinen Hals in eine wehende Mähne?

Lässt du es springen wie eine Heuschrecke, Schrecken verbreitend mit seinem stolzen Schnauben? …

Fliegt der Falke durch deine Weisheit und breitet seine Schwingen nach Süden aus?

Erhebt sich der Adler auf dein Geheiß und baut sein Nest in der Höhe?

Kannst du den Leviathan mit einem Haken fangen oder seine Zunge mit einem Strick binden?

Kannst du eine Schnur durch seine Nase ziehen oder seinen Kiefer mit einem Haken durchbohren? …

Nichts auf Erden ist ihm gleich – ein Geschöpf ohne Furcht.

Er blickt auf alle Hochmütigen herab;

Er ist der König über alle Stolzen.“

Dies ist die radikalste nicht-anthropozentrische Stelle in der hebräischen Bibel. Sie sagt uns, dass der Mensch weder das Zentrum des Universums noch das Maß aller Dinge ist. Einige der wunderbarsten Aspekte der Natur haben nichts mit menschlichen Bedürfnissen zu tun, sondern alles mit der Vielfalt, die Gott geschaffen hat. Einer der wenigen jüdischen Denker, die dies klar zum Ausdruck brachten, war Moses Maimonides:

„Nach der Lehre der Bibel und den Ergebnissen der Philosophie halte ich folgende Auffassung für die richtige: Das Universum existiert nicht um des Menschen willen, sondern jedes Wesen existiert um seiner selbst willen und nicht um eines anderen willen. So glauben wir an die Schöpfung und brauchen nicht zu fragen, zu welchem Zweck jede Art von existierenden Dingen da ist, denn wir nehmen an, dass Gott alle Teile des Universums nach Seinem Willen erschaffen hat; einige um ihrer selbst willen und einige um anderer Wesen willen…“ (Führer der Unschlüssigen, III:13).

Und weiter:

„Man bedenke die enormen Ausmaße dieser körperlichen Wesen und wie zahlreich sie sind. Wenn die ganze Erde nicht einmal den kleinsten Teil der Sphäre der Fixsterne ausmacht, in welchem Verhältnis steht dann der Mensch zu all diesen geschaffenen Dingen, und wie kann sich einer von uns einbilden, dass sie um seinetwillen existieren und Werkzeuge zu seinem Nutzen sind?“ (Führer der Unschlüssigen, III:14).

Wir verstehen nun, was mit dem Verbot bestimmter Tier-, Vogel- und Fischarten gemeint ist, von denen viele Raubtiere sind, wie die in Hiob 38-41 beschriebenen. Sie existieren um ihrer selbst willen, nicht um des Menschen willen. Das riesige Universum und die Erde mit ihren unzähligen Arten haben ihre eigene Integrität. Ja, nach der Sintflut gab Gott den Menschen die Erlaubnis, Fleisch zu essen, aber es war ein Zugeständnis, als wollte Er sagen: Tötet, wenn ihr müsst, aber lasst es Tiere sein, nicht andere Menschen, die ihr tötet.

Durch Seinen Bund mit den Israeliten lädt Gott die Menschheit ein, ein neues Kapitel der Geschichte aufzuschlagen. Es ist noch nicht der Garten Eden, das wiedergewonnene Paradies. Aber mit dem Bau des Heiligtums, der symbolischen Wohnung der göttlichen Gegenwart auf Erden, hat etwas Neues begonnen. Ein Zeichen dafür ist, dass die Israeliten nicht jedes Lebewesen töten dürfen, um es zu essen. Bestimmte Arten sind zu schützen, ihnen ist ihre Freiheit und Unversehrtheit zuzugestehen, ohne sie dem menschlichen Einfluss und Willen zu unterwerfen. Die neue Schöpfung – das Heiligtum – bedeutet eine neue Würde für die alte Schöpfung, besonders für ihre wilden und ungezähmten Geschöpfe. Nicht alles im Universum ist für den menschlichen Verzehr geschaffen.

[1] The Call of the Torah, Bd. 2, S. 99.

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