
Autorin:
Dr. Deborah Weissman
Brief aus Jerusalem Nr. 9
Die Temperaturen im Juni waren eher typisch für Juli und August aber sie spiegeln unsere Stimmung wider. Natürlich gab es auch Momente der Freude, wie die Befreiung von vier Geiseln in einer – aus israelischer Sicht – erfolgreichen Aktion der Armee. Diese Befreiung hatte einen starken „menschlichen Aspekt“, da die Geisel Noa Argamani endlich ihre Mutter wiedersehen konnte, die mit einem Gehirntumor im vierten Stadium im Sterben lag. Aber die meiste Zeit sind die Nachrichten deprimierend und tragen zur allgemeinen Lethargie bei.
Wer seit dem 7. Oktober nicht mehr in Israel war, ist vielleicht überrascht, dass der Krieg allgegenwärtig ist und das Leben neben dem Krieg oft mehr oder weniger normal weitergeht. Überall sieht man Bilder von Geiseln mit Slogans wie „Holt sie jetzt nach Hause“ oder „Holt sie aus der Hölle“. Der andere Slogan, der noch weiter verbreitet ist, lautet „Gemeinsam werden wir siegen“. Dieser Slogan steht auf Plakatwänden, Bussen, Ladenfronten usw. Wenn man sich im Kino einen Film ansieht, wird auf der Leinwand eine Nachricht eingeblendet, die davor warnt, dass es während des Films zu einem Bombenangriff kommen könnte, und Anweisungen gibt, was die Zuschauenden in einem solchen Fall tun sollen. (Das passiert so gut wie nie.) Der übliche Sommerbetrieb geht jedoch weiter, wenn auch mit deutlich weniger Tourist*innen.
Nach der Befreiung der vier Geiseln trat der Chef der Gaza-Division der israelischen Armee zurück. Weitere Rücktritte aus den Streitkräften sind zu erwarten, obwohl die Regierung bisher keine Verantwortung für die Katastrophe übernommen hat. Außerhalb von Netanyahus politischer Basis wächst die Frustration über das Fehlen einer echten Führungspersönlichkeit in der Regierung, und es gibt Gerüchte, dass Itamar Ben Gvir, der Leiter des Ministeriums für Nationale Sicherheit, de facto der Premierminister ist. Ben Gvirs Partei nennt sich Jüdische Macht und vertritt die extreme, rassistische Rechte. Eine Zeit lang war selbst Netanyahu nicht bereit, diese Partei in die Koalition aufzunehmen. Aber bei den letzten Wahlen im November 2022 brauchte er sie, um im Amt zu bleiben. Ironischerweise hat Ben Gvir nie in den israelischen Verteidigungsstreitkräften gedient, weil die Armee ihn als jüdischen Terroristen ansah und nicht einziehen wollte.
Mehrere europäische Länder, allen voran Spanien, Irland und Norwegen, nahmen den Krieg zum Anlass, den Staat Palästina anzuerkennen. Diese Entwicklung wird von den meisten israelischen Juden als ein weiterer Fall wahrgenommen, in dem die Welt gegen Israel ist. Da die Welt a priori gegen uns ist, spielt es keine große Rolle, was wir tun oder nicht tun. Moralische Stimmen in Israel, die unser Verhalten im Krieg kritisieren, sind selten. Sie werden in der Regel von der Regierung als von der extremen Linken kommend abgetan und manchmal als Verräter bezeichnet. Drei Organisationen, die in ihrer Kritik als loyale und unterstützende Opposition stärker in Erscheinung treten, sind der Israel Fund, die Rabbis for Human Rights und das Shalom Hartman Institute. Sie alle haben Websites und Podcasts, teilweise in englischer Sprache. Und dann gibt es die Zehn- und manchmal Hunderttausende von Demonstranten, die jedem Wetter trotzen, um ihre Stimme zu erheben. Viele von ihnen haben keine parteipolitische Zugehörigkeit.
Die ehemaligen Generalstabschefs der IDF, Benny Gantz und Gadi Eisenkott, traten aus Netanyahus Kriegskabinett zurück, das der Premierminister daraufhin auflöste. In seiner Rücktrittserklärung stellte Gantz jedoch fest, dass es Netanyahu nicht gelungen sei, einen „absoluten Sieg“ zu erringen. Was er damit meinte, ist nicht ganz klar. Ist ein „absoluter“ Sieg überhaupt möglich? Wie würde er aussehen? Zu welchem Preis?
Ein bezeichnendes Beispiel für die israelische Einseitigkeit ist das folgende: Dr. Cochav Elkayam-Levy ist Trägerin des Israel-Preises für ihre wichtige juristische Arbeit und die Vertretung israelischer Frauen vor der Welt im Schatten der Kriegsverbrechen der Hamas am 7. Oktober. Prof. Irwin Cotler ist ein kanadisch-jüdischer Jurist und Menschenrechtsaktivist. Gemeinsam haben die beiden einen Begriff für eine neue Art von Kriegsverbrechen geprägt: Kinozid, die Ermordung ganzer Familien. Leider scheinen sie vergessen zu haben, dass auch in Gaza ganze Familien ausgelöscht wurden. Es ist zweifellos richtig, dass beide Seiten in diesem schrecklichen Konflikt Kriegsverbrechen begangen haben, aber der Internationale Gerichtshof in Den Haag befasst sich nur mit staatlichen Akteuren. Solange die Definitionen nicht geändert werden, gibt es keinen Rahmen, in dem die schrecklichen Taten der Hamas behandelt werden können.
Während die Augen Israels immer noch hauptsächlich auf den Gazastreifen gerichtet sind und die Bedrohung durch Raketen aus dem Gazastreifen immer noch präsent ist, wird der Hisbollah im Norden des Landes immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Die Hisbollah hat Raketen und Flugkörper abgeschossen, die viel Land in Galiläa und auf den Golanhöhen verbrannt haben. Die Kämpfe im Norden sind noch von relativ geringer Intensität, könnten sich aber zu einem größeren Konflikt ausweiten. Hisbollah-Führer Nasrallah hat sogar mit einem Angriff auf Zypern gedroht, dem er militärische Zusammenarbeit mit Israel vorwirft.
Es wird – in diesem Teil der Welt – kein langweiliger Sommer.