Rabbinisches Wort für den September
Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg
Anfang September, am 3./4. 9., begehen wir Rosch Chodesch Elul, und von nun an richtet sich unser Blick auf die Hohen Feiertage im nächsten Monat. Elul ist die Zeit der Vorbereitung darauf, darum ertönt von Monatsbeginn an täglich das Schofar, ein Weckruf für Körper und Seele. Der durchdringende Klang soll uns in die Glieder fahren und uns aus unserer Sorglosigkeit herausreißen. Aber was, wenn wir auch so schon bis ins Mark erschüttert sind? Ist das Schofarblasen dann nicht eine lästige Routine oder sogar eine Zumutung? Es sind nun elf Monate seit dem 7. Oktober, noch immer sitzen die entführten Männer und Frauen, Kinder und Alte in der Hölle von Hamas-Tunneln; es heißt, von den 105 Geiseln könnten schon 38 nur noch als Tote zurückgebracht werden. Seit elf Monaten können 70.000 Menschen im Norden Israels nicht in ihrem Zuhause wohnen, weil täglich Raketen und Drohnen der Hisbollah ihr Leben bedrohen. Elf Monate währt die Zeit, da Kaddisch gesagt wird für Verstorbene, danach nur noch zur Jahrzeit. In wenigen Tagen also werden die Hinterbliebenen von mehr als 1.200 massakrierten Zivilisten aufhören, Kaddisch zu sagen. Die jüdischen Trauerrituale mit ihren abgestuften Phasen von Schiw’ah und Schloschim (7 bzw. 30 Tage nach der Beerdigung), danach noch das tägliche Kaddisch, sind eigentlich dazu gedacht, den Trauernden allmählich den Weg zurück in ein Leben ohne ihre Lieben zu ebnen. Aber in welchen Alltag können sie zurückkehren, da dieser Krieg mit seiner Bedrohung der Existenz des Staates Israel und aller seiner Bewohner anhält?
Was die Israelis unmittelbar betrifft, lässt auch uns in Deutschland nicht unberührt. Nicht der Ruf des Schofars, sondern die täglichen Nachrichtensendungen halten uns in Schrecken. Übrigens nicht nur wegen der Berichte vom Kriegsgeschehen, sondern auch wegen der Art der Berichterstattung. Und ein Besonderes kommt noch hinzu: Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist zusätzlich emotional sehr betroffen durch den Krieg gegen die Ukraine: Die Namen bombardierter Orte sind vertraut, die Sorge um dort lebende Verwandte und Bekannte ist groß. Das Schofar scheint dieses Jahr eher seiner Funktion als Warnsignal in Kriegszeiten zu genügen denn als Ruf zu innerer Einkehr.
Doch auch eine weitere Praxis begleitet uns durch den Monat Elul bis hin zum Abschluss der Feiertage zu Simchat Torah: Täglich wird der Psalm 27 rezitiert. Als ob die Worte direkt für unsere Zeit geschrieben wären, heißt es dort:
„Der Ewige ist mein Licht und meine Rettung, vor wem soll ich mich fürchten?
Der Ewige ist meines Lebens Zuflucht, vor wem soll ich Angst haben?
Wenn sich Übeltäter mir nahen, um mein Fleisch zu verzehren,
werden meine Bedränger straucheln und meine Feinde fallen.
Wenn sich gegen mich ein Lager zusammenrottet, wird sich mein Herz nicht fürchten,
wenn gegen mich ein Krieg heranzieht, bleibe ich doch voll Zuversicht. (…)
Zeige mir, Ewiger, deinen Weg und führe mich auf ebener Bahn, meinen Feinden zum Trotz.
Gib mich nicht meinen Gegnern preis, denn gegen mich standen falsche Zeugen auf und jene, die nach Gewalt schnauben.
So will ich doch vertrauen, die Güte des Ewigen zu schauen im Land des Lebens.
Hoffe auf den Ewigen, sei stark, dein Herz sei mutig, und hoffe auf den Ewigen.“
Möge der tägliche Zuspruch dieses Psalms uns allen Trost und Zuversicht geben, als Quelle von Resilienz und als Stärkung gegen die täglichen Nachrichten.
Ihre/Eure Rabbinerin Offenberg